
Ungewohnte Akzente für „My Fair Lady“
Aschenputtel hat diverse Schwestern. Sie tragen unterschiedliche Namen und geistern durch Märchen, Filme oder Bühnenwerke. Auch hier geht es um eine junge Frau, die bislang eher im Abseits stand und dann plötzlich salonfähig wird. Ein Stoff wie aus dem Bilderbuch, Steilvorlage für ein Musical, dachten Komponist Frederick Loewe und Autor Alan Jay Lerner – ein Kreativteam nach Maß, das 1956 „My Fair Lady“ auf die Broadway-Bretter schickte und damals einen Aufführungsrekord erzielte. Bald war das Stück ein Welterfolg und Kino-Hit. Die Mischung aus schwungvoll-spritziger Musik, Cinderella-Motiv und Pygmalion-Effekt funktioniert immer noch. Aktuell beweist das Landestheater Neustrelitz, welche Power weiterhin in Eliza und Professor Higgins stecken.
Regisseurin Ella Marchment will ungewohnte Akzente setzen, Gewichte verschieben, sich auf soziale Gegensätze konzentrieren. Ein bemerkenswertes Konzept, vom ersten Moment an konsequent realisiert. Vor einem riesigen, violettfarbenen Kasten spielt ein Mädchen mit Stabpuppen. Es ist die junge Eliza, die sich in eine andere Welt träumt. Am Schluss wird die Erwachsene ihrem Lehrer Higgins nicht vor den Traualtar folgen. Ein letztes Wort, eine finale Geste, dann verlässt sie den Professor endgültig, weil er seine Marotten behalten will und der ehemaligen Schülerin niemals auf Augenhöhe begegnen kann. Das Ganze passiert in einem abstrakten Raum: verschiebbare Wände und Quader, kaum Mobiliar platziert Philomena Strack auf der Drehbühne. Rot-Töne und Türkisgrün dominieren, auch bei den von Sascha Thomsen entworfenen Kostümen. Es sind Attribute für die Klassenzugehörigkeit. Die Aristokraten stolzieren mit angedeuteten Hüten und Fracks durch London, die alte Ordnung scheint fragil, aus den Fugen geraten.
Etwas steril wirkt der Rahmen, er füllt sich aber durch prächtig modellierte, lebenspralle Charaktere und die wild ausgelassene, fast zirzensische Choreografie von Adam Haigh. Sie animiert die Deutsche Tanzkompanie zu akrobatischem Wirbel. Bei Alfred Doolittle (berstend vor Energie: Ulrich Burdack) und seinen Kumpanen herrscht feucht-fröhliche Stimmung, derweil im Domizil von Mrs. Pearce (britisch distinguiert: Sylke Urbanek), Oberst Pickering (ein heimlicher Schwerenöter: Ryszard Kalus) und dem hocheitlen, skurrilen Henry Higgins (famos: Robert Merwald) eine weitgehend emotionsfreie Atmosphäre obligatorisch ist. Da prallen natürlich Welten aufeinander. Mittendrin eine Eliza, die auf Selbstermächtigung zielt und den Herren rasch Hörner aufbrummt. Laura Scherwitzl macht das großartig und enorm überzeugend. Andrés Felipe Orozco gefällt als plump-naiver Freddy und Gabriele Thomann als freundlich-forsche Mrs. Higgins. Stringent und klug rückt Ella Marchment die Emanzipationsgeschichte von Eliza in den zentralen Blickwinkel. Dadurch wirkt „My Fair Lady“ durchaus heutig und schubst die Figur in den Jungbrunnen.
Unschlagbar ist die Musik, die einen Evergreen an den nächsten reiht. Kenichiro Kojima schwört die Neubrandenburger Philharmonie auf den Loewe-Soundtrack ein und das Orchester spaziert mit betörend süffiger Leichtigkeit durch die Melodien, ohne die Streicher über Gebühr in den Vordergrund zu hieven. So trifft der vertraute Klassiker auf eine bezwingend neue Lesart. Das funktioniert, weil alle Beteiligten für die Inszenierung brennen und sich ins Geschehen hineinwerfen. Folglich wird die Sache rund und das Publikum feiert lautstark diese spannende Inszenierung.
Musikalische Leitung: Kenichiro Kojima • Regie: Ella Marchment • Choreografie: Adam Haigh • Bühne: Philomena Strack • Kostüme: Sascha Thomsen • Chorleitung: Joseph Feigl • Mit: Laura Scherwitzl (Eliza Doolittle), Robert Merwald (Prof. Henry Higgins), Ryszard Kalus (Oberst Pickering), Ulrich Burdack (Alfred P. Doolittle), Andrés Felipe Orozco (Freddy Eynsford-Hill), Sylke Urbanek (Mrs. Pearce), Gabriele Thomann (Mrs. Higgins), Marin Silni (Harry), Andreas Hartig (Jamie), Constanze Neuweg (Little Eliza) • Deutsche Tanzkompanie • Opernchor der TOG • Neubrandenburger Philharmonie
Aufmacherfoto: Jörg Metzner




