
„Carpe f*cking Diem“ ist ein Gute-Laune-Musical zum Mitklatschen
Für Bea Dickenbusch, die „überdurchschnittlich normale“ Heldin dieser Musical-Uraufführung im Kammerformat, läuft’s richtig übel. Kurz bevor ihr überheblicher Arzt zum Tennisspielen abschwirrt, wirft er ihr die Diagnose „Was am Stammhirn“ und „Noch drei Tage“ hin. Danach macht ihr Liebhaber Schluss mit ihr, sie verliert Job und Wohnung, steht mit einem Karton voll chinesischer Winkekatzen auf der Straße und muss wieder bei Mama einziehen, die sie auch nur runtermacht. Niemand will die Verzweifelte trösten – wäre da nicht Ben, der wie ein Otto Waalkes auf Speed in ihr Leben platzt, unkaputtbar zuversichtlich unter seiner Idiotenfrisur. Das Problem ist nur: Niemand sieht ihn außer Bea.
Dass die Todesdiagnose am Schluss nicht eintreffen kann, ahnt man eigentlich bei den ersten Takten des Gute-Laune-Musicals, bei dessen abwechslungsreich getönten, aber nie weit vom Schlager gebauten Songs das Karlsruher Publikum fast durchweg mitklatscht. Zum Glück streut Komponist Martin Lingnau auch ein paar Balladen unter die rasanten Nummern, darunter ein verträumtes Rezept für Brokkoli-Auflauf im Stil von Audreys Vorstadtidyllen-Traum aus dem „Kleinen Horrorladen“ oder ein seelenvolles Duett für Bea und Noah, dem sie so lange zufällig über den Weg läuft, bis sie endlich das Glück mit ihm findet.
Bei einem Lied in der griechischen Taverne geht es um „Bäng Bäng“ in den antiken Schriften, eine gewisse Udo-Jürgens-Besinnlichkeit ist schon was Gutes gegenüber der platten Hitparaden-Lyrik, in die Songtexter Sven van Thom doch auch mal Sondheim’sche Reimqualität einstreut: „Wenn das Leben kacke ist, streich einen Punkt von deiner Bucket List“. Ansonsten heißen die Liedzeilen „So ein Tag wie heut“, „In deinen Augen will ich so gern versinken“ oder „Sei glücklich wie ich“: als Bea nämlich im Baumhaus zuhause ihrem siebenjährigen Alter Ego begegnet. Dessen Klein-Mädchen-Wünsche wie Einhorn-Reiten verwirklicht die vermeintlich Krebskranke nun mit Bens Hilfe – spätestens hier sagt die Glaubwürdigkeit Tschüss.
Buchautor und Regisseur William Danne, Intendant des Kammertheaters, kommt vom Schmidt Theater Hamburg und bringt vielleicht ein bisschen zu viel Reeperbahn-Ahoi für die badische Seele mit; etwas weniger Lautstärke, metaphorisch wie tatsächlich, hätte bei so einem Stoff durchaus ein paar nachdenkliche Stiche setzen können. Manche Szenen entwickeln eine schöne Alltagsabsurdität: wie der Sexshop-Verkäufer, der übergroße Dildos „aus der neuen Herbstkollektion in sanften Erdtönen“ anpreist.
Was den Abend am Ende dann doch zu selbstvergessener, turbulenter Unterhaltung macht, ist Dannes rasante, handfeste Regie, das sind die originellen, perfekt zu jedem Song passenden Choreografien von Hakan T. Aslan, und es ist vor allem die Energie der großartigen Darstellerinnen und Darsteller. Alle fünf bringen ihre Situations- und Körperkomik, ihr tolles Timing und einen ansteckenden Übermut in die Aufführung. Dorothea Maria Müller legt ihre Bea trocken und selbstironisch an, umso entsetzter ist sie über den imaginären Typ, der sie plötzlich ständig umflattert: Jendrik Sigwart turnt wie ein Kind auf den Möbeln rum und ist als hibbeliger Ben derart positiv, dass es weh tut. Drei weitere Darsteller wechseln im Sekundentakt die Rollen und schaffen es doch, durchgehende Charaktere zu zeichnen: Evangelos Sargantzo als geerdeter, liebenswerter Bestatter Noah, Michael Kargus als kapitalistischer Vermieter, Dildo-Verkäufer oder Beas Bruder, vor allem aber Dorothée Kahler als eitle Mutter, kleine Bea und betrogene Ehefrau; sie hat irgendwie auch die fetzigsten Songs abgekriegt.
Für fröhliche Farben sorgen Manuel Kolip (Bühne) und Gesa Lüthje (Kostüme), die Musik liefert im kleinen Kammertheater ein Playback. „Du musst nur den Diem carpen“, heißt es nochmal im Finale, und wenigstens für diesen Abend nehmen wir die verdrehte Botschaft gerne mit nach Hause.
Musikalische Leitung: Jörg Andreas Hilger • Regie: William Danne • Choreografie: Hakan T. Aslan • Bühne: Manuel Kolip • Kostüme: Gesa Lüthje • Licht: Christoph Pöschko • Sounddesign: David Horn • Playbacks: Stefan Endrigkeit • Mit: Dorothea Maria Müller (Bea), Evangelos Sargantzo (Noah u.a.), Dorothée Kahler (Hiltrud u.a.), Jendrik Sigwart (Ben), Michael Kargus (Dr. Glinz u.a.)
Aufmacherfoto: Markus Breig




