Resi Cabaret Vassilissa Reznikoff Vincent Glander c Monika Rittershaus | MUSICAL TODAY

Cabaret

Die Kälte vor der Tür

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Residenztheater
von
John Kander (Musik)
Joe Masteroff (Buch)
Fred Ebb (Liedtexte)
Robert Gilbert (Deutsche Dialoge)
Regie
Claus Guth
Uraufführung
1966

„Cabaret“ im Strudel der Zeit

Beim Opernregisseur Claus Guth reimen sich gewissermaßen klug und geschmackssicher auf Erfolg. Dass nicht einfach ein konkurrierender Barrie-Kosky-Abklatsch dabei herauskommen würde, wenn er sich mit der hitgespickten, populären Vorkatastrophen-Revue „Cabaret“ das erste Mal ein Musical vornimmt, war schon klar. Wobei natürlich auch bei ihm vor allem der Conférencier (in jeder Hinsicht geschmeidig: Vincent Glander) und Sally Bowles (mit ganz eigener Zerbrechlichkeit: Vassilissa Reznikoff) alle Showregister bis zur Verausgabungsgrenze ziehen dürfen und auch die Kit Kat Girls & Boys gelegentlich den Überblick zu verlieren scheinen, wer da gerade mit wem akrobatisch-erotisch verknotet ist.

Was John Kander (Musik) und Fred Ebb (Liedtexte) 1966 am Broadway herausbrachten und was durch den Rückenwind der kongenialen Verfilmung mit Liza Minnelli 1972 auf Welterfolgskurs blieb, ist auch deshalb auf den Bühnen ein Dauerbrenner, weil der Abstand von Kunst und Wirklichkeit nicht größer wird, sondern in einer Weise schrumpft, die gespenstisch ist. Die Rhetorik des Nazis im Stück, aber auch die direkt und eindringlich von Fräulein Schneider (Cathrin Störmer) nach ihrer Trennung vom jüdischen Gemüsehändler Schultz (Robert Dölle) ans Publikum gerichtete Frage „What would you do?“ haben es in sich. Das ist bei Guth punktgenau inszeniert. Auch die Aufforderung der Opportunistin Fräulein Kost (Myriam Schröder), in die genial verführerische Hymne auf den morgigen Tag einzustimmen, verhallt zwar wie vorgesehen unerhört – aber für einen Moment des Gruselns reicht es allemal. Ein kleiner Junge hatte dieses Verführer-Lied vorher schon einmal angestimmt. Da noch nicht im Braunhemd und mit nur schwarzem Fähnchen, aber vor einer geöffneten Tür mit einem Gestöber im Halbdunkel dahinter. Das assoziiert die einbrechende metaphorische Kälte, aber auch die Asche der Bücherverbrennung und gehört zu den eindrucksvollsten Bildern, die Etienne Pluss mit seiner Bühne beisteuert.

Nachdem der Conférencier die Wartezeit bis zum Eintreffen der acht Musiker überbrückt und sich als Anwalt des Publikums eingeführt hat, betritt der amerikanische Schriftsteller Clifford Bradshaw ein geräumiges Hotelzimmer und handelt mit der Vermieterin den Preis aus. Mit dem längst ergrauten Michael Goldberg ist es ein Charakter, der sich an jede aufregende Begegnung mit dem Berlin vom Anfang der 30er Jahre zurückerinnert, der in seinen Aufzeichnungen von damals blättert, bis mit Thomas Hauser sein jüngeres Alter Ego von damals seine Worte übernimmt und mit uns zurück in die Zeit der Handlung reist. Wir erleben episodenhaft mit, wie er in den Strudel der Zeit gezogen wird, wie er vom Kit-Kat-Klub und seinen Verführungen, vor allem aber von dessen Star Sally Bowles fasziniert ist. Mit einigem Showeffekt dringt dieses pralle Leben in Bradshaws Zimmer – durch die Fenster, aus dem Kühlschrank, aus dem Bett.

Durch den Zeitsprung der Verdopplung seiner Figur wird aber auch deutlich, wie er sich den wachen Blick des Außenstehenden bewahrt, der Verführung durch den nur wenig getarnten Nazi Ernst Ludwig (Vincent zur Linden) widersteht und am Ende die Flucht ergreift. Wenn die Welt aus den Fugen gerät, dann ist auch die Bühne ein Trümmerfeld, offen bis zur Brandmauer und mit viel Raum für den Gleichschritt der Braunhemden.

Unter Leitung von Stephen Delaney wird die reduzierte Orchesterfassung von Chris Walker nicht nur durchweg pointiert gespielt und von den Protagonisten ebenso gesungen (im englischen Original), sondern auch die deutsch gesprochenen Passagen sind durchweg präzise in der alptraumartigen Szenerie platziert. Jubel für diese beklemmend ernst genommene Musicalversion!


Musikalische Leitung: Stephen Delaney • Musikalische Co-Leitung: Philipp Tillotson • Regie: Claus Guth • Choreografie: Sommer Ulrickson • Bühne: Etienne Pluss • Kostüme: Bianca Deigner • Licht: Gerrit Jurda • Soundkomposition: Mathis Nitschke • Mit: Vincent Glander (Conférencier), Vassilissa Reznikoff (Sally Bowles), Michael Goldberg und Thomas Hauser (Clifford Bradshaw), Cathrin Störmer (Fräulein Schneider), Robert Dölle (Herr Schultz), Vincent zur Linden (Ernst Ludwig), Myriam Schröder (Fräulein Kost), Simone Centonze, Hannah Chioma Ekezie, Stephanie Marin, Sophie Mefan, Edward Serban, Luca Skupin, Julia Taschler (Kit Kat Girls & Boys) u.a. • Statisterie des Residenztheaters

Aufmacherfoto: Monika Rittershaus

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