
„Sommernachtsträume“ in der Stiftsruine
„Mehr“ könnte das Motto von Joern Hinkels „Sommernachtsträumen“ sein. Seine letzte Spielzeit bei den Bad Hersfelder Festspielen startet er, wie passend, in einer lauen Mittsommernacht nicht einfach mit dem „Sommernachtstraum“, einem Klassiker in der größten romanischen Kirchenruine nördlich der Alpen. Hinkel schickt weitere Figuren aus Shakespeares Stücken in den Wald, die durch Namensänderungen in die Handlung verwoben werden. Das amüsiert – etwa, wenn Romeo (hier Tom) und Julia sich am Telefon kennenlernen und im echten Leben aneinander vorbei gehen. Zu den Paaren des Originals gesellen sich auch Benedikt und Beatrice aus „Viel Lärm um nichts“ oder Orlando und Rosalinde aus „Wie es euch gefällt“. Malvolio aus „Was ihr wollt“ wird hier zum Haushofmeister Philostrat und bringt Viola/Cesario gleich mit.
Dieses „Best-of“ fordert heraus, drei Stunden sind lang. Ein „Mehr“ aber überzeugt restlos: Das große Festspielorchester spielt erstmals nicht nur klassisches Musical live. Es ist eine wahre Freude, dem grandiosen Leiter Christoph Wohlleben bei der Umsetzung der vielschichtigen Partitur von Komponist Jörg Gollasch auch optisch zu folgen. Wie in einem Film-Soundtrack untermalt und kommentiert, akzentuiert und dramatisiert die Neukomposition. Einige an Brecht/Weill erinnernden Songs gehen tiefer, bleiben aber kaum im Ohr.
Hinkel hat das Stück in die Gründerzeit verlegt. Das Bühnenbild von Jens Kilian bietet mit Treppen im Stil von M. C. Escher eine ideenreiche Erweiterung. Herzog Theseus lässt die allererste Telefonanlage im Schlosspark errichten, die Handwerker bauen einen Wald aus Telegrafenmasten. Puck sitzt an der Schaltzentrale und verbindet die nächtlichen Anrufer feixend falsch. Der Kunstgriff zündet, denn die nostalgischen Requisiten vermitteln in der Ruine eine nicht zu moderne Szenerie. Dazu passen die Kostüme von Kerstin Micheel. Der Steampunk stand Pate in einer Mischung aus viktorianischer Pracht und technischen Accessoires wie Fliegerbrillen oder Lederkorsetts (Requisiteurin: Doris Engel).
Beim Ensemble greift Hinkel auf Weggefährten und Publikumslieblinge zurück, die viel musikalische Erfahrung mitbringen – einer der roten Fäden der Intendanz. Etwa, wenn 2025 „Wie im Himmel“ mit viel Musik und das Musical „A Chorus Line“ wiederaufgenommen werden, „Die Räuber“ mit Songs der „Toten Hosen“ auf dem Programm stehen und „Ronja Räubertochter“ mit einem Kompositionsauftrag als Uraufführung überzeugt.
Christian Nickel spielt Theseus/Oberon, Bettina Hauenschild ist Hippolyta/Titania. Erol Sander kann als hinreißender Benedikt sein komödiantisches Talent zeigen. Anouschka Renzi gibt die dauerbetrunkene Kammerzofe Katharina, angelehnt an Sir Tobi Rülps aus „Was ihr wollt“. Helena Charlotte Sigal verkörpert mit Helena eine Frau, die Demetrius (wunderbar: Maximilian Gehrlinger) verfallen ist und auch ihr Gesangstalent unter Beweis stellen darf, genau wie Gioia Osthoff als Hermia. Anna Graenzer ist der hinreißend freche Puck, Thorsten Nindel sorgt als Haushofmeister für herzhaftes Lachen. Till Timmermanns Lysander bringt viel jugendlichen Schwung auf die alten Festspielbretter, genau wie Uta Krüger als Viola. Außerdem zu sehen sind u.a. Peter Englert, Wolfgang Seidenberg, Mathias Znidarec, Günter Alt, Marina Lötschert, Natascha Hirthe, Olivia Grassner, Alicja Rosinski und Peter Wagner. Die Namensliste mit beliebten Darstellern aus Film und Bühne zeigt, welchen Reiz Festspiele haben.
Joern Hinkel gelingt ein Abend, der die Kraft aller Theatergewerke und talentierter Darsteller unterhaltsam auf die Bühne bringt – heiter und melancholisch, lyrisch, verführerisch und meditativ, zeitlos und gleichzeitig mit Inspirationen für die Gegenwart. Dazu tragen auch die für ein so musikalisch angelegtes Werk natürlich notwendige Choreografie von Jurriaan Bles und das hervorragende Sounddesign von Joerg Gruensfelder bei.
Musikalische Leitung: Christoph Wohlleben • Choreografie: Jurriaan Bles • Bühne: Jens Kilian • Kostüme: Kerstin Micheel • Licht: Ulrich Schneider • Sounddesign: Joerg Gruensfelder • Mitarbeit Musik: Chiara Kremser • Mit: Christian Nickel (Theseus/Oberon), Bettina Hauenschild (Hippolyta/Titania), Anna Graenzer (Puck), Uta Krüger (Cesario/Viola), Thorsten Nindel (Philostrat), Gioia Osthoff (Hermia), Helena Charlotte Sigal (Helena), Till Timmermann (Lysander), Maximilian Gehrlinger (Demetrius), Wolfgang Seidenberg (Peter Block/Prolog), Peter Englert (Klaus Zettel/Pyramus), Mathias Znidarec (Matz Schlucker/Thisbe), Erol Sander (Benedikt Bohr/Löwe), Günter Alt (Tom Rohr/Wand), Peter Wagner (Franz Flöter/Mond), Anouschka Renzi (Katharina), Marina Lötschert (Maria), Natascha Hirthe (Beatrice), Olivia Grassner (Julia), Alicja Rosinski (Rosalinde) u.a. • Orchester der Bad Hersfelder Festspiele
Aufmacherfoto: BHF/Johannes Schembs