
Sondheims lustig-tragischer Mix „Into the Woods“
Das Märchen-Musical „Into the Woods“, das bei uns noch immer noch viel zu selten gespielt wird, hat fast immer den gleichen Effekt: Im ersten Akt amüsiert man sich königlich, wie Buchautor James Lapine fünf bis sechs Märchen raffiniert zusammenknotet, wie sich die Figuren gegenseitig stören und helfen, und wie eigentlich alles im Eiltempo bestens ausgeht. Im zweiten Akt kommt dann der Schock, die Märchenfiguren werden zertrampelt, die Prinzen gehen fremd und die guten Menschen lügen. In Basel liefert Regisseur Martin G. Berger in seiner durchdachten, vielschichtigen Inszenierung die Freud’sche Deutung und Bruno Bettelheims Psychoanalyse der Grimm’schen Märchen gleich mit.
Es beginnt hübsch romantisch: Von Rotkäppchen über die Hexe bis zum Bäckerspaar, das sich ein Kind wünscht, stecken alle in entsprechenden historischen Kostümen. Im titelgebenden Wald aber, wohin sie nach und nach auf der Suche nach ihrem Glück verschwinden, verändern sich die Menschen, denn Bühnenbildnerin Sarah Katharina Karl hat auf die Drehbühne ein unheimliches, in Grün und Rot leuchtendes Spiegelkabinett gebaut. Dort tauchen hinter Glaswänden Wölfe oder verlorene Väter auf, dort werden die Figuren plötzlich (und immer an den perfekten Stellen) mit ihren eigenen Spiegelbildern konfrontiert. All die liebenswerten Klischeefiguren wandeln sich im Wald zu modernen Menschen – Rotkäppchen etwa zur Punkerin, die vom Wolf Drogen zugesteckt bekommt, die zwei Prinzen mutieren mit ihrer Angeberei zu trashigen Prolls. Die Riesin, zu der Jack an der Bohnenrebe hochklettert, verführt ihn nackt im Bett, seine Reise wird zum Initiationsritus. Natürlich zeigt sich die Veränderung in der Kleidung, alle Figuren kommen optisch im Heute an.
Neben den Spiegelbildern gibt es auch noch Comic-artige Projektionen von Vincent Stefan. Sie kommentieren immer wieder das Geschehen, etwa mit einer blutigen Nabelschnur – es geht ums Abnabeln, um die Herkunft, das Verstehen der eigenen Psyche. Zum Glück gehört hier zum Regietheater eine detaillierte, subtile Personenregie voll Situationskomik.
Das Ensemble ist wunderbar ausgesucht, musikalisch überzeugt der Abend unter der Leitung von Thomas Wise mit durchweg schönen Musical- und der ein oder anderen Opernstimme. Als Bäckerspaar sind Julia Klotz und Alen Hodzovic nicht nur ungemein sympathisch, beide zeigen deutlich das Sich-Bewusstwerden ihrer Charaktere als empathische, fehlerhafte Menschen. Álfheiður Erla Guðmundsdóttir bleibt als Aschenputtel ein wenig unzugänglich und zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Dafür zeigen Vanessa Heinz als cooles Rotkäppchen und Oedo Kuipers als charmanter, arg begriffsstutziger Jack zwei herrlich trockene Youngsters, Kuipers singt seinen Song von den „Giants in the Sky“ großartig. Stimmlich ebenso tadellos ist das eitle, sehr lustige Prinzenpaar aus Jan Rekeszus (als Aschenputtels Prinz ständig am Handy) und Ronan Caillet. Als überaus hässliche Klischeehexe quietscht und flucht Delia Mayer nach allen Regeln der Kunst, das warnende Finale singt sie mit großer Wärme. Stefan Kurt, ebenfalls eine TV-Berühmtheit, wirft als Erzähler seine Kommentare pointiert ins Geschehen und trägt als „Mysteriöser Mann“, sprich: des Bäckers Vater, mit leisen Tönen zum halbwegs guten Ende bei; ein Kompliment an Alexander Djurkov Hotter für den fantasievollen Mantel voller kleiner Spiegelrahmen.
Ein wenig bricht der Inszenierung im zweiten Akt das Timing weg, der Abend dauert dreieinviertel Stunden, zu lang für ein Musical. Statt die Riesin umzubringen, zerreißen die übrigen Figuren das Märchenbuch, die Hexe zündet sich höchst gruselig an, und die Videoprojektionen erzählen weitere, surreale Märchen. Hauptkritikpunkt: Es gibt eine ziemlich gute deutsche Übersetzung, warum dieses Stück in Englisch spielen? Natürlich freut sich der Musicalfan, aber die Normalsterblichen verstehen von rasanten Songs wie „It’s your fault“ auf keinen Fall alle Nuancen, die Handlung ist kompliziert genug. Wie schade, wenn die Lacher bei den Übertiteln kommen, nicht bei den Pointen.
Musikalische Leitung: Thomas Wise • Bühne: Sarah Katharina Karl • Kostüme: Alexander Djurkov Hotter • Video: Vincent Stefan • Licht: Cornelius Hunziker • Ton: Cornelius Bohn, Robert Hermann und Lejla Bajrami • Mit: Alen Hodzovic (Bäcker), Julia Klotz (Bäckerin), Delia Mayer (Hexe), Álfheiður Erla Guðmundsdóttir (Aschenputtel), Jan Rekeszus (Aschenputtels Prinz/Wolf), Oedo Kuipers (Jack), Vanessa Heinz (Rotkäppchen), Stefan Kurt (Erzähler/Mysteriöser Mann), Harpa Ósk Björnsdóttir (Rapunzel), Ronan Caillet (Rapunzels Prinz), Frauke Willimczik (Jacks Mutter/Aschenputtels Mutter), Sonja Koppelhuber (Aschenputtels Stiefmutter/Großmutter), Vivian Zatta (Diener/Aschenputtels Vater), Sarah Baxter (Florinda), Sophie Kidwell (Lucinda) • Sinfonieorchester Basel
Aufmacherfoto: Ingo Höhn