
Steffi Irmen rockt ihre One-Woman-Show „Die Amme“
„Zwei Häuser, gleich an Würdigkeit, durch alten Groll zu neuem Kampf bereit.“ Stopp mal – wieso eigentlich? Das fragt sich auch William S., gerade auf der Suche nach Inspiration für seine nächste Tragödie. In einer Trattoria macht er eine gewisse Amme ausfindig. Und die redet (und singt) sich mit überraschenden Enthüllungen schnell um Kopf und Kragen …
2023 brachten Peter Plate und Ulf Leo Sommer ihre eigene Version von „Romeo und Julia“ ins Stage Theater des Westens. Augen und Ohren hatte das Publikum aber vor allem für eine: Steffi Irmen. Über Nacht mauserte sich „Die Amme“ zu so etwas wie einer Berliner Kultfigur. Die jetzt – nach einer Handvoll Previews im letzten Jahr – mit ihrem eigenen Solo-Programm die traditionsreiche Musicalbühne ganz für sich beansprucht. Andere One-Woman-Shows würde man wie selbstverständlich auf einer kleinen Studiobühne „parken“. Nicht so hier: Irmen ist ein Bühnentier im besten Sinne des Wortes, die den großen Saal mit seinen knapp 1.700 Plätzen wie eine Naturgewalt für sich einnimmt.
Das „Spin-off“ läuft in Doppelprogrammierung zum parallel wiederaufgenommenen „Romeo und Julia“, freitags ist immer „Die Amme“ dran. Das macht sich die Theatercrew ganz pragmatisch zunutze: Das schon vom Vorgänger-Stück vorhandene Bühnenbild – ein Halbrund mit Salon und dem bei dieser Vorlage fast schon obligatorischen Balkon – bildet den Hintergrund, befüllt mit drei Tischen, ebenso vielen Tischdecken, sechs Stühlen und einem Lichtspot auf den imaginären Shakespeare. Minimalismus als Prinzip, aber mit maximaler Wirkung. Denn dem Kreativduo Franziska Kuropka und Lukas Nimscheck (Buch und Regie) geht für ihr kurzweiliges Abtauchen in die Familiengeheimnisse der Capulets und Montagues nicht die Ideen aus. Kranken andere Kammerstücke gerne mal an Monotonie, verbergen geschickte Positionswechsel des Mobiliars in diesem Fall augenzwinkernd mehr als einmal „Pikantes“. Das lässt der Vorstellungskraft freien Lauf, spielt der Situationskomik in die Hände und hat manchmal etwas von Stand-up-Comedy.
Nicht immer zünden alle Pointen, oft lächelt man eher, als dass man lauthals lacht. Aber immer dann, wenn man denkt, dass der letzte Funke irgendwie nicht so ganz überspringen mag und man den Abend rein dramaturgisch eh schon längst durchschaut hat, kippt die Stimmung plötzlich von einer Sekunde zur anderen – und Steffi Irmen „catcht“ einen doch wieder. Das Buch von Kuropka und Nimscheck riskiert dabei durchaus den ein oder anderen Spagat, setzt mal auf launige Anspielungen unter der Gürtellinie, dann wieder auf philosophische Sinnsuche in dick aufgetragener emotionaler Tusche. Über allem schwebt eine Utopie: „Liebe ist alles“, der zum Klassiker gewordene Rosenstolz-Hit, der schon für „Romeo und Julia“ Pate stand.
Es ist nicht der einzige Song aus dem 20-jährigen Back-Katalog der legendären Berliner Band. „Die Amme“ bietet einen Querschnitt aus rund 35 Jahren musikalischem Schaffen der beiden Künstlerischen Intendanten Peter Plate und Ulf Leo Sommer: einige ausgewählte Lieder aus der Rosenstolz-Ära mit AnNa R., für andere Popstars wie Sarah Connor komponierte Hymnen, aber auch speziell für „Romeo und Julia“ und „Die Amme“ entstandene Stücke. Das Ergebnis ist eine abwechslungsreiche Mixtur des unverwechselbaren Plate-Sommer-Sounds in dezent für das Bühnengeschehen angepassten Texten, stimmungsvoll untermalt von einer fünfköpfigen Band unter Leitung von Dominik Franke.
Steffi Irmen stürzt sich voll und ganz in diesen Kosmos und leuchtet dabei in tausend Farben. Sie beltet sich die Seele aus dem Leib, sie entblättert in sanfter Melancholie ihre Trauer über den Verlust geliebter Menschen, sie empowert sich und das Publikum in Sachen Selbstliebe und tritt aus sich heraus ins Rampenlicht (und auch mal an die Rampe). Bissiger Humor und Tragik, Lachen und Weinen liegen hier nah beieinander – besondere Höhepunkte: „Aus Liebe wollt ich alles wissen“, „Jung sein“ und „Vincent“. Haube ab vor dieser Leistung!
Musikalische Leitung: Dominik Franke • Choreografie: Bart De Clercq • Mit: Steffi Irmen (Die Amme)
Aufmacherfoto: sunstroem