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VH59428 | MUSICAL TODAY

Gegengift

Mit dem Pilz aus der Krise?

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Ort
Neuköllner Oper Berlin
VON
Vera Schindler (Text)
Yuval Halpern (Musik)
Regie
Bjørn de Wildt 
Uraufführung
2025

Ein vielschichtiges Überlebenskampf-Musical der Jungen Neuköllner Oper

Multiple Krisen zeichnen die Erfahrung der globalen Gegenwart, flankiert durch eine zermürbende Melange aus Hoffnung(slosigkeit), Vereinzelung und Indifferenz. In der Produktion „Gegengift“ an der Neuköllner Oper Berlin lebt der Mensch im „Noch-Nicht-Bewussten“ (Ernst Bloch), dem bloß Zukunftsträume einen Ausweg weisen. Sechs junge Menschen begeben sich als „Hoffnungsritter*innen“ auf die Reise in ein finsteres Moor, um das Gegengift für Krankheit und Unbill in ihrer Heimatstadt zu finden.

Die Charaktere verkörpern höchst unterschiedliche Perspektiven der Zuversicht: eine esoterische Tarotkartenenthusiastin (Johanna Lanzky), eine von Selbstzweifeln zerfurchte Intelligenzbestie (Lena Wetzel), eine unverbesserliche Dauerempörte (Nele Langner), ein unbedarft-kräftiger Pragmatiker (Viktor Voigt) – unterstützt durch zwei weitere Akteure mit ausgeprägtem Gespür für Gemeinschaft (Kamil Saad Ahmad) und Natur (Helena Marte). Im sumpfigen Zwischenreich begegnen sie einem Orakel mit Spielsucht (Markus Teichert), der impulsiven Natur (Vivian Yau) und einem widerspenstigen Bauchgefühl (Chantale Nurse) – allesamt Opernsänger:innen, die die Widersprüchlichkeit der Inszenierung zwischen Altbekanntem und postmodernen Schlaglichtern treffend untermalen. Die gesamte Aufführung ist durchzogen von diesem Spiel mit Ambivalenzen. „Die Geschichte entsteht, indem man sie erzählt“, verkündet Nebula (Corinna Buchholz), halb Schlagerstern, halb Operndiva.

Hinter der Fassade eines scheinbaren Heldenepos breitet sich ein vielschichtiges Bedeutungsgeflecht aus – verortet in einem symbolisch aufgeladenen Pilzmyzel. Als Produkt intensiver Zusammenarbeit mit der Berliner TU und UdK avanciert der Pilz zum Sinnbild eines „diversen Wir“ und fungiert damit als Gegennarrativ zum linearen Fortschrittsdiktum des Kapitalismus: querwachsend, unkontrollierbar, ungerichtet. Der Abend lässt erkennen: Das Gegengift ist nicht der Rückzug ins Private, sondern solidarisches Handeln mit multiperspektivischem Blick.

Vera Schindler (Text) liefert damit eine höchst anspruchsvolle Schablone für Regisseur Bjørn de Wildt, dessen Inszenierung zwar reichlich Reflexionsfläche offeriert, damit allerdings auch an Stringenz einbüßt. Yuval Halpern (Musik) spiegelt diese Widersprüchlichkeit mit einem spannenden, manchmal dissonanten Spagat aus Opernpathos und jazziger Leichtigkeit, wobei die Songtexte stellenweise holprig bleiben. Besonders wirkungsvoll sticht ein Rap-Intermezzo hervor, das die stilistische Brüchigkeit der Musik mit erfrischender Klarheit kontrastiert. Visuell verdichtet sich das Konzept im gelungenen Bühnenbild (Charlotte Morache), in dessen Zentrum eine pilzbefallene Rampe als Projektionsfläche wuchert, die zwischen Naturmetapher und surrealer Irritation oszilliert.

„Gegengift“ ist ein untypisches Musical, das zum Nachdenken anregt und Aufmerksamkeit verlangt für ein ästhetisch vielschichtiges Spiel mit Narration, Klang und Körpern – ein Spiel, das auf Mehrdeutigkeit setzt, gängige Interpretationsmuster irritiert und damit Fragezeichen aufwirft. Der Anspruch ist hoch, nicht alles trägt. Doch in der fragmentarischen Dekonstruktion der Illusion liegt auch ein Versprechen: „Das Ende der Täuschung ist die radikale Hoffnung.“


Musikalische Leitung / Komposition: Yuval Halpern • Text: Vera Schindler •  Bühne: Charlotte Morache • Kostüm: Gwendolyn Noltes • Dramaturgie: Änne-Marthe Kühn • Produktionsleitung/Regieassistenz: Sandra M. Heinzelmann • Wissenschaftliche Begleitung: Prof. Dr. Vera Meyer • Mit: Corinna Buchholz (Nebula), Chantale Nurse (Bauchgefühl), Markus Teichert (Orakel), Vivian Yau (Natur) und den Mitgliedern der Jungen Neuköllner Oper: Kamil Saad Ahmad (Rafa), Nele Langner (Jona), Johanna Lanzky (Eleni), Helena Marte (Laila), Viktor A. Voigt (Kian) und Lena Wetzel (Malia)

Aufmacherfoto: Peter van Heesen

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