„Linie 1“ als Musical von Gehörlosen für Taube und Hörende
Anfangs notorisch ignoriert, kam bald der Mühlheimer Dramatikerpreis – und plötzlich wuchs das Interesse, bis hin zur Verfilmung und weltweiten Ausbreitung. „Linie 1“, das Stück von Birger Heymann/No Ticket (Musik) und Volker Ludwig (Buch und Gesangstexte), läuft nach über 2.000 Aufführungen immer noch erfolgreich im Berliner Grips Theater. Und zog von dort aus quer durch die Republik und weiter, u.a. nach Seoul und New York.
Nun traute sich der Verein „Die Visionäre“ als Produzent an eine ziemlich spektakuläre neue Fassung, die im Heimathafen Neukölln unter begeisterter Publikumsresonanz aus der Taufe gehoben wird, versehen mit dem Untertitel „Das taube Musical“. Hier agieren Gehörlose in Gebärdensprache als Protagonisten, Lautsprache mit den Originaltexten sowie die Songs kommen simultan und live aus dem Off. Eine hoch ambitionierte, ebenso komplexe Angelegenheit, die bewundernswert synchron abläuft und im Resultat pures, anerkennendes Staunen auslöst.
„Linie 1“ wirkt immer noch verblüffend aktuell, reflektiert den wummernden Soundtrack der Metropolis am Beispiel dieser U-Bahn-Strecke mit lokalem Schwerpunkt auf Kreuzberg. Es ist ein Schmelztiegel für Suchende und Gestrandete, schmierige Spießer und Schwule, Touristen oder Drogendealer. Ein gefundenes Fressen für Kristin Horstmann, Heike Hofmann und Betty Loose als überbordend kreative Kostümbildnerinnen. Sie staffieren die Darsteller mit wunderbar stilechten Outfits aus, mal schreiend schrill, mal äußerst bieder und durchgängig mit jenem Casual-Geschmack, der Berlins Fashion-Optik weiterhin prägt. Das schnell wandelbare und praktikable Bühnenbild von Jonas Kirchner und Linda Wortmann schafft reichlich authentische Atmosphäre zwischen Imbissbude und Enge im Waggon.
Regisseurin Ute Sybille Schmitz versteht ihr im konkreten Fall besonders schweres Handwerk famos. Sie koordiniert das Nebeneinander von Off-Stimmen und Bühnenaktion perfekt, bringt die Mitwirkenden in flotte Bewegung, lässt die Handlung mit Verve temporeich abspulen, setzt prägnante Akzente und lockt viel Situationskomik aus dem revuehaften Plot. Das Ensemble ist fast pausenlos in wechselnden Rollen unterwegs und wirft sich mit geradezu unbändiger Leidenschaft in das Panoptikum aus markanten Typen und überraschenden Momenten. Jede karikaturesk verdichtete Figur bekommt ein klares Profil und eine Perücke, mit entsprechender Mimik und passenden Gesten. Fantastisch, was es dabei zu sehen gibt: ein köstliches Spektrum aus Gosse und Glamour, hautnah verkörpert.
Die Mitwirkenden verstehen sich als künstlerisches Kollektiv, Einzelleistungen sollen dabei nicht herausgestellt werden. Alle tragen zum Gelingen dieser großartigen Produktion bei. Die Musik vom Band haben sie gemeinsam einstudiert und sorgen auch für den choreografischen Schliff mit Pfiff. Die Abenteuer der jungen Frau aus der Provinz im brodelnden Metropolen-Moloch wirken glaubhaft, in schnellen Schnitten erzählt und machen richtig Spaß. Es sind zeitlose Schicksale mit trottelig verhuschten Ehemännern, nörgelnden Frauen, kleinkarierten Rassisten, skurrilen Aussteigern oder den berühmten mondänen Wilmersdorfer Witwen. Hier fügt sich jedes Detail in ein perfektes Ganzes. „Linie 1 – Das taube Musical“ ist Musiktheater vom Feinsten in Gebärden- und Lautsprache.
Bühne: Jonas Kirchner und Linda Wortmann • Kostüme: Kristin Horstmann, Heike Hofmann und Betty Loose • Mit: Klaudia Grabias, Tom Käbisch, Tabea Lehrner, Sophia Mushold, Mark Norloch, Rolf Puttrich-Reignard, Steffen Thiede, Susanne Vallentin, Thomas Zander, Katrin Bauer, David Urbanczyk
Aufmacherfoto: Reik Schubert