Ein besonderes Musiktheater-Projekt der Jungen NKO der Neuköllner Oper Berlin
In Autokratien sind Einschränkungen der Freiheit bittere Realität: Tschetschenien hat kürzlich sowohl zu schnelle als auch zu langsame Musik verboten, mit dem Ziel das kulturelle Erbe zu wahren, während in Afghanistan insbesondere Frauen Gefängnisstrafen drohen, wenn sie in der Öffentlichkeit singen. Das zeigt: Musik wird oft als Gefahr für die Stabilität autoritärer Herrschaft verstanden, zumindest dann, wenn sie als Ausdruck von Freiheit gilt. Auch Demokratien erleben Angriffe auf Freiheitsrechte und provozieren Widerstand durch soziale Bewegungen. Dabei schwingen Fragen mit wie: Sind Gesetze gerecht, weil sie Gesetze sind? Rechtfertigen Repressionen Gewalt? Ist Widerstand gerechtfertigt? Sollte die Mehrheit die Macht haben? Dem widmet sich die aktuelle Produktion „Vogelfrei“ des Theaterjugendklubs Junge NKO der Neuköllner Oper Berlin.
In einem dystopischen Fantasiestaat wird ein Musikverbot erlassen, das die jungen Erwachsenen zunächst schockiert. Der Funke des Widerstands entzündet sich: sie beschließen, die Musik zurückzuholen, ihre Stimmen zu erheben und brechen in die Neuköllner Oper ein, um mit der intergalaktischen Radiosendung „Vogelfrei“ dem Kampf gegen das System Ausdruck zu verleihen. Anfänglicher Konsens schlägt schnell in interne Feindseligkeiten um, die sich nach einer Erweiterung des Verbotes verschärfen.
Eine kleine pazifistische Gruppe um Henk (Lara Wirbelauer) lehnt Gewalt ab, fühlt sich frei in der Stille und akzeptiert den Freiheitsverlust. Allerdings setzt sich eine gewaltbereite Gruppe durch, die sie aus der Gemeinschaft ausstößt, diskriminiert und als Ungeziefer bezeichnet. Der anfangs alle vereinende Kampf für Freiheit wandelt sich in einen internen Konflikt, in dem die Freiheit der Minderheit zugunsten der Mehrheit verwirkt wird. All dies sind Prozesse, die langsam voranschreiten wie „Risse, die man hört, aber noch nicht sieht“, sagt Marla (Anaise Kliemann) – eine Anspielung auf die zunehmende Akzeptanz menschenverachtenden Gedankenguts in der Gesellschaft. Das Ende gipfelt im Chaos, die Stadt geht in Flammen auf – schließlich müssten manchmal „Dinge enden, damit etwas Neues beginnen kann“.
Diese metaphorische Reichhaltigkeit durchzieht die ausgetüftelte Inszenierung (Bjørn de Wildt), die aufzeigt: Der Kampf für das Gemeinwohl, für Freiheit kann autoritär instrumentalisiert werden, wenn der Zweck die Mittel heiligt und oppositionelle Stimmen unterdrückt werden. Den Figuren haucht de Wildt ausreichend Tiefe ein und lässt eine fesselnde Intensität entstehen, die das Publikum bewegt. Hier und da sind die szenischen Übergänge zwar ein wenig schwerfällig, allerdings werden die Charaktere ausdrucksstark sowie modulationsreich entfaltet.
Besonders hervorzuheben sind Anais Kliemann (Marla), Emma Klessen (Gavin), Nayra Santos Strobel (Jesse) und Viktor Voigt (Wren), die durch melodisches Timbre, pointiert platzierten Humor, charismatische und authentische Präsenz begeistern. Die eher schlichten Bewegungsabläufe wirken harmonisch, einfühlsam, meist synchron, fast schwerelos und akzentuieren geschickt die Inszenierung. Die reduziert gehaltenen Kostüme (Frederica Fugazzi) als auch die verwendete Symbolik unterstreichen den Gleichheitsgedanken hervorragend. Yuval Halperns Eigenkompositionen sorgen für eine abwechslungsreiche und atmosphärisch dichte Dynamik mit ergreifenden, die Thematik prägnant untermalenden Nummern wie „Lava heiß“ oder „Was bist du bereit, aufzugeben?“, unterstützt durch sanfte, rhythmische Begleitung von Nastaran Mirabshabestari (Cajon), Ori Davidson (Bass) und Joshua Neumann (Klavier). Auf der Bühne (Rui Wegener, Ralf Mauelshagen u.a.) finden sich überwiegend Requisiten aus dem Stück „Daddy Unplugged“, die besonders kreativ in die Inszenierung eingebettet werden. Die präzise abgestimmte Licht- (Christian Maith) und Tontechnik (Ronald Dávila) hebt schließlich die insgesamt gelungene Leistung aller Beteiligten eindrucksvoll hervor.
„Vogelfrei“ erzählt von einer bewegenden Widerstandsgeschichte, in der ein Konflikt zwischen friedlicher Akzeptanz von Freiheitsverlust und gewaltvollem Widerstand entflammt. Der Jungen NKO gelingt ein mitreißendes Porträt der Paradoxie des Freiheitsbegriffs, der trügerisch bleibt, weil er ideologisch eingefärbt werden kann. Am Ende steht die Einsicht: Gewaltfreier Widerstand kann für selbstverständlich gehaltene Verhältnisse konstruktiv entzaubern, während instrumentelle Gewalt dies nicht vermag. Die Produktion regt zum intensiven Nachdenken an, honoriert durch gebührenden Applaus und Standing Ovations.
Musikalische Leitung / Einstudierung: Yuval Halpern • Produktionsleitung: Lena Wetzel • Kostüm: Federica Fugazzi • Skript: Vera Schindler • Dramaturgie: Änne-Marthe Kühn • Licht: Christian Maith • Ton / Abendtechnik: Ronald Dávila • Bühnenbau: Rui Wegener, Ralf Mauelshagen, Gregor von Glinski, Philipp Zumpe, Marc Schulze, Pet Bartl-Zuba • Abendspielleitung: Sophie Reavley • Mit: Anaise Kliemann (Marla), Helena Marte (Valle), Maxim Komarchuk (Falk), Luise Döhring (Enis), Lara Wirbelauer (Henk), Viktor Voigt (Wren), Laura Lenkeit (Stine), Nayra Santos Strobel (Jesse), Johanna Lanzky (Robin), Samy Allozy (Sandros), Emma Klessen (Gavin) und den Musiker*innen Nastaran Mirabshabestari (Cajon), Ori Davidson (Bass), Joshua Neumann (Klavier)
Aufmacherfoto: Thomas Koy