Das 9/11-Musical „Come From Away“
Das Brüsseler Theater-Festival „Bruxellons!“ feiert dieses Jahr seinen 26. Geburtstag. Als Open-Air-Spielstätte dient der Innenhof des Schlosses Karreveld aus dem 16. und 17. Jahrhundert. 2015 wurde „The Sound of Music“ hier erstmals überhaupt in französischer Sprache gespielt, danach folgten die französischen Erstaufführungen von „Evita“, „Sunset Boulevard“, „Elisabeth“ und „West Side Story“.
Dieses Jahr steht „Come From Away“ auf dem Programm, ein Musical von Irene Sankoff und David Hein, das am 11. September 2001 beginnt. Wegen der Anschläge auf die Twin Towers in New York wird der ganze Flugverkehr über Amerika eingestellt. Maschinen, die noch in der Luft sind, werden schnell auf andere Flughäfen umgeleitet. 38 Flugzeuge landen im kanadischen Gander, einem Städtchen in Neufundland, das bis in die frühen 1960er Jahre als Zwischenstopp für das Auftanken von Flugzeugen aus Europa nach Amerika diente. Mit dem Aufkommen von Maschinen mit einem größeren Tankvermögen geriet Gander in Vergessenheit.
Da nun fast 7.000 Menschen aus der ganzen Welt zu versorgen sind, ist nicht nur Bürgermeister Claude (Franck Labbé) gefragt, sondern alle 10.000 Einwohner, die sich freiwillig in den Dienst der gestrandeten Menschen stellen. Es gibt nicht nur Probleme mit der Beschaffung von Essen oder sanitären Artikeln, sondern auch Konflikte angesichts der vielen Sprachen und Religionen, die hier aufeinanderprallen. Beulah (Virginie Perrier) kümmert sich um das leibliche Wohl, während Bonnie (Jolijn Antonissen) um die Tiere in den Frachträumen der Flugzeuge besorgt ist. In den sechs Tagen vor Ort entstehen Freundschaften, Nick (Arnaud Masclet) und Diane (Margaux Maillet) verlieben sich ineinander, während das Verhältnis von Kevin T (Damien Locqueneux) und Kevin J (Loaï Rahman) in die Brüche geht.
Das Ensemble verkörpert sowohl die Einwohner von Gander als auch die Passagiere, was am Anfang etwas irritiert. Während am Broadway und in London Baumstämme das Bühnenbild darstellten, stehen hier nur ein paar Holzhäuser, die Dimitri Shumelinsky erschaffen hat. Das wirkt erfreulich realistisch. In einem Holzhaus sitzt das Orchester unter der Leitung von Bo Waterschoot. Als Requisiten dienen Stühle, die in Reihen aufgestellt entweder die Sitze in einem Flugzeug oder in einem Bus ergeben.
Regisseur Jack Cooper inszenierte bisher fast alle Musicals für das Festival „Bruxellons!“. Diesmal assistiert ihm die Schauspielerin Anne Mie Gils, ebenfalls keine Unbekannte im Schloss Karreveld. Beiden gelingt es, dem Ensemble die Energie zu entlocken, die gebraucht wird, um das Stück – ohne dass jemand besonders hervorsticht – mit viel Talent und einfachen Mitteln glaubhaft zu spielen und zu singen.
Stéphane Laporte hat für den Veranstalter u.a. „My Fair Lady“ und „West Side Story“ ins
Französische übersetzt. Für „Come From Away“ zeigt er wieder viel Fingerspitzengefühl, sodass Dialoge und Gesangstexte dem Original treu bleiben. Eigentlich entsprechen die Lieder, so wie zum Beispiel auf der CD aufgelistet, nur den Beschreibungen der einzelnen Szenen. Als echte Liedtitel kann man u.a. nur die Eröffnungsnummer „Welcome to the Rock“ oder das gefühlvolle „Entre le ciel et moi“ („Me and the Sky“), gesungen von der Stewardess Beverley (Marion Preite), bezeichnen. Dem Festival gelingt es erneut, eine überaus sehenswerte Show auf die Bühne zu zaubern.
Musikalische Leitung: Bo Waterschoot • Bühne: Dimitri Shumelinsky • Kostüme: Béatrice Guilleaume • Choreografie: Kylian Campbell • Licht: Laurent Kaye • Mit: Margaux Maillet (Diane), Terja Diava (Hannah), Aaricia Dubois (Janice), Virginie Perrier (Beulah), Jolijn Antonissen (Bonnie), Marion Preite (Beverley), Loïc Suberville (Oz), Damien Locqueneux (Kevin T), Loaï Rahman (Kevin J), Janis Palu (Bob), Franck Labbé (Claude), Arnaud Masclet (Nick)
Aufmacherfoto: Gregory Navarra