„Rio – König von Deutschland“ als ebenso sensible wie rasante Collage
Zu Lebzeiten war er umstritten und wurde von unterschiedlichen Gruppierungen zerrieben – im Nachruhm avancierte er zur Ikone. Heute gilt Rio Reiser als Urheber der deutschsprachigen Rockballade und Referenzgröße für zahllose Nachfolger. Angefangen hat seine künstlerische Tätigkeit mit politischem Protest, klaren Forderungen, die sich gegen Mief und Muff der jungen Bundesrepublik richteten. Rebellion lagen ihm und seiner Band „Ton Steine Scherben“ auf den Lippen: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ lautete ein Titel, der durchs Land zog und Gleichgesinnte zum Widerstand animierte. Später ging Reiser solistische Wege, mit wechselndem Erfolg und moderateren Texten. Das nahmen ihm Linke übel, während er auch auf dem Unterhaltungssektor auf Kritik stieß. Ein Mann zwischen starren Fronten, der seinen Platz suchte, ihn aber niemals wirklich fand. 1996 starb er 46-jährig, ausgemergelt von Drogen und Alkohol.
Inzwischen taucht er wieder häufig auf, in Cover-Versionen oder im Original – und auch auf der Bühne, in Revuen, die sein kurzes, intensives Leben nacherzählen. Aktuell etwa im Schlosstheater Celle im Außenquartier Halle 19 unter dem Titel „Rio – König von Deutschland“: ein leises Porträt, das schnurstracks auf seine größten Hits zielt.
Autor Heiner Kondschak geht es nicht um eine geradlinig buchstabierte Biografie. Er will den Menschen hinter Fassaden, Kolportagen, öffentlichen Zuordnungen ausleuchten, seinen radikalen Eigensinn, die Kontraste zwischen medialem Hype und Einsamkeit. Jenseits der individuellen Risse eines ewig Gehetzten werden Um- und Aufbrüche Westdeutschlands erahnbar. Reisers Musik legt dafür die Tonspur aus. Als Regisseur und Ausstatter ordnet Hüseyin Michael Cirpici die verschiedenen Fäden geschickt, nähert sich dem Künstler subtil und lässt das Publikum wunderbar daran teilhaben.
Rio Reiser litt heftig, an Vorurteilen gegenüber seiner offen demonstrierten Homosexualität, am Weltschmerz, an zahllosen Lügen und brutalem Kommerz im Musikgeschäft. Die antikapitalistische Szene empfand er als spießig, kleinkariert, geizig, mit Konservativen haderte er noch mehr. Er wollte sich nie in Schubladen pressen lassen, Freigeist sein, kompensierte Frust durch Suff. Das vermittelt dieses 2004 entstandene Stück glaubwürdig, kaleidoskopartig, mit oft kurzen Blitzlichtern. Politisches und Privates, Melancholie und Getriebensein stehen eng nebeneinander. Der Regisseur zurrt das emotionale Durcheinander immer wieder straff, das Ensemble folgt ihm diszipliniert und leidenschaftlich.
Schlaksige Hosen, lange Haare, reichlich Wein im Wohngemeinschafts-Chaos: das passende Ambiente für die musikalische Politcollage. Kondschak hangelt sich durch die Situationen, Persönliches und Klassenkampf im Kreuzberger Domizil, Verwirrungen später auch in der nordfriesischen Landkommune. Die Akteure finden sich darin bestens zurecht, setzen Pointen und Zäsuren, blenden auf, springen in die nächste Episode. Der Regisseur wechselt mit feinem Gespür das Tempo zwischen Obsession und leisen Momenten.
Alle Mitwirkenden sind die authentischen Personen von „Ton Steine Scherben“ und fungieren unter Leitung von Marko Djurdjević auch als singende Instrumentalisten mit Gitarre, Piano und Schlagzeug. Das Epizentrum bildet Lars Fabian als Rio: ein aufgeladener Kraftprotz, Berserker und sensibler Beobachter zugleich. Ihm zur Seite stehen Aila Ben Franken, u.a. als Manager Nikel Pallat, Nils Mosen (Lanrue), Erik Mrotzek in den Rollen der verschiedenen Band-Percussionisten und Marko Djurdjević als Kai Sichtermann. Viel Agitprop, Gerangel und Deutschrock gibt es an diesem dichten, furiosen, hingebungsvoll gespielten Abend, mittendrin natürlich die großen Reiser-Hits wie „Junimond“, „Für immer und dich“ sowie „König von Deutschland“. Das Publikum tobt am Ende vor Begeisterung.
Musikalische Leitung: Marko Djurdjević • Regie und Ausstattung: Hüseyin Michael Cirpici • Mit: Lars Fabian (Rio Reiser), Marko Djurdjević (Kai Sichtermann), Aila Ben Franken (Nikel Pallat u.a.), Nils Mosen (Lanrue), Erik Mrotzek (Wolfgang Seidel/Olaf Lietzau u.a.)
Aufmacherfoto: Marie Liebig