
„Hamlet“ als schrilles Rock-Vaudeville
Irgendwas ist faul im Staat, behauptet jemand und denkt an verstörende Wandlungen. Der originale Autor zielte einst auf Dänemark, nun geht es um Deutschland, genauer die DDR kurz vor deren Liquidation. Letztlich drängt alles auf die lastende Frage: Sein oder Nicht-Sein. Wer gewinnt, wer verliert hier? Klar also, „Hamlet“ steht ante portas, nun im Staatstheater Cottbus frisch poliert als schräges Rock-Vaudeville mit manchmal greller Musik der britischen Kultband Tiger Lillies. Die widmeten dem berühmten Prinzen ein Album. Regisseur Armin Petras und Dramaturgin Wiebke Rüter entwickelten daraus eine pausenlos gespielte Revue über Irrungen und Wirrungen im radikalen Umbruch.
Neben Shakespeares originärem Drama nahm das Kreativteam die Spuren zu Heiner Müllers „Hamletmaschine“ (1979) auf. Heraus kommt eine heftig gekürzte, auf die Essenz komprimierte Fassung, die Petras nach Cottbus ins damalige Reichsbahnausbesserungswerk verfrachtet, damit auch Lokalkolorit einstreut und den geschärften Blick auf die Wendephase um 1990 richtet. Dabei interessieren den Regisseur weniger Authentizität und historischer Wahrheitsgehalt als bewusst konstruierte Beweggründe und Umstände: ein geschickter Verfremdungseffekt à la Brecht.
Der Betriebsleiter (Horst Kotterba) des maroden Unternehmens stirbt mitten in dieser wild bewegten Epoche. Sein Sohn Hamlet reist zur Beerdigung zurück in die Heimat. Dort erlebt er Abschiede, knallharte Abwicklungen, Aufbrüche. Seine Mutter (mondän und lasziv: Sigrun Fischer) ist wieder liiert, mit Klaus (schmierig alert: Markus Paul), einem geldgeilen Hasardeur aus dem Westen. Die Geschichte fokussiert Agonie, Frustration, Hoffnungen, brachiale Veränderungen. Neben verunsicherten Zeitzeugen huschen vertraute Figuren wie Ophelia (Nathalie Schörken), Polonius (Kai Börner) oder Horatio (Lucie Luise Thiede) durch den Plot.
Da mischen sich Shakespeare-Texte mit Müller-Zitaten, pendelt das Geschehen zwischen 1600 und 2025, im Brennpunkt die sogenannte Wiedervereinigung. Nicht leicht, in diesem Zeittunnel den Faden zu behalten. Den Inhalt von „Hamlet“ setzt Petras als bekannt voraus. Er zeigt fragile Wesen, die aus dem Takt geraten, den Boden unter den Füßen verlieren. Einige ballen noch die revolutionäre Faust, anderen schwenken auf Kapitalismus-Kurs, frönen zum Beispiel den Freuden des Fitness-Studios.
Das Stück mutiert zur Blaupause für transitäre Prozesse: ein höchst anspruchsvolles, ausgeklügeltes Konzept. Die Musik der Tiger Lillies schafft Atmosphäre, verdichtet und assoziiert Stimmungen von Widerstand bis Sehnsucht. Mal kommt sie als modernes Chanson daher, dann rau und hitzig, gar als Heavy Metal. Miles Perkin leitet die Band, bindet das ganze Ensemble ein, verwebt Klänge und Handlung organisch. Die von Julian Marbach üppig dekorierte Drehbühne verweist auf den Verfall sozialistischer Planwirtschaft, Philipp Baseners Kostüme fokussieren DDR-Schick der späten 80er Jahre mit Schwenk auf die Gegenwart. Das Video von Peta Schickart sorgt für eine weitere Ebene, die quasi eine Innenschau gewährt. Die Choreografie von Berit Jentzsch vitalisiert bevorzugt die wabernden Gefühlswelten der Protagonisten.
Als Kraftzentrum der Inszenierung fungiert Johannes Scheidweiler in der Titelrolle: ein Mann, zerfurcht von Melancholie und Träumerei, Entsetzen, Wut und Ohnmacht. Der Prinz aus Dänemark in Cottbus präsentiert sich nie als Held, eher Beobachter, der verzweifelt und schließlich zertrümmert. Starke Bilder gibt es zu bestaunen, gipfelnd in der Eröffnung einer Bankfiliale, die während der Feier von Hamlet abgefackelt wird. Dieser „Hamlet“ in punkiger Musical-Verpackung funktioniert, rüttelt auf, rührt an und geht über eine Genre-Zuschreibung weit hinaus. Die Mitwirkenden geben alles, das Premierenpublikum jubelt.
Musikalische Leitung und Live-Musik: Miles Perkin • Choreografie: Berit Jentzsch • Bühne: Julian Marbach • Kostüme: Philipp Basener • Video: Peta Schickart • Mit: Johannes Scheidweiler (Hamlet), Sigrun Fischer (Gertrud), Markus Paul (Klaus), Horst Kotterba (Hamlets Vater), Nathalie Schörken (Ophelia), Kai Börner (Polonius), Lucie Luise Thiede (Horatio), Berit Jentzsch (Marcella), Miles Perkin (Heizer) u.a.
Aufmacherfoto: Bernd Schönberger