
Zeitlose Achterbahnfahrt mit Sondheims „Heirat’ mich ein bisschen“
Sprünge über den eigenen Schatten erweisen sich meist als beschwerlich: Bedenken, Zweifel am Selbstbewusstsein, Angst vor Konsequenzen schaffen Barrieren. Zwei namenlose Zeitgenossen können davon ein Lied singen. Sie begegnen sich in der U-Bahn und anderswo, immer wieder. Irgendwie hopst irgendwann der Funke über, aber doch nicht sprühend genug, um wirklich Feuer zu entfachen. Fragen wabern durch die Hirne der beiden New Yorker: Kann ich meine Gefühle preisgeben? Verliere ich mich in der Liebe? Übersteht die Beziehung eine Krise? Daraus hat Stephen Sondheim auf Vorlage von Craig Lucas und Norman René 1980 ein kleines, feines Musical entwickelt und als „Marry Me A Little“ in die Welt geschickt. Im Hof des Barockhauses Neißestraße ist es nun als Sommerproduktion des Görlitzer Gerhart-Hauptmann-Theaters open-air in der geschmeidigen Übersetzung von Frank Thannhäuser zu sehen.
„Heirat’ mich ein bisschen“, so der deutsche Titel, beschreibt eine juristisch unmögliche Situation und entpuppt sich als Revue im Kammerformat, mit klugen Texten und fluffiger Musik. Sondheim verwendete 18 Songs, die aus früheren Stücken herauskatapultiert wurden, weil sie entweder dramaturgisch nicht passten oder die Sache in die Länge zogen. Hier funktionieren sie perfekt und zeigen die hohe Qualität des Komponisten und geschliffenen Liedtexters. Das Auf und Ab zwischen Annäherung und Abstand der mal unterdrückten, dann veräußerten Emotionen entwickelt sich zum komödiantischen Ping-Pong-Spiel. Jedes Lied manifestiert einen Aggregatzustand, kompakt gereiht zu winzigen Episoden ohne gesprochene Dialoge. Besonders schön: „Samstag Nacht“, „Kann der gut Foxtrott“, „Die Sommerschönen“, „Sekunden mit dir“ und „Pour le Sport“.
Lisa Orthuber und Michael Berner agieren als wankelmütige Großstädter im Dschungel aus Erwartungen und Skepsis, geheimen Begierden und zur Schau getragener Zögerlichkeit ausgesprochen authentisch. Sie geben ihren Rollen scharf geschnittenes Profil. Eine rasante Achterbahnfahrt wechselnder Stimmungen und Schwingungen entsteht in ihren zufälligen oder geplanten Treffen, die ein Happy End notorisch auf das nächste Date verdrängen; am Ende heißt es lapidar „Es sollte wohl nicht wahr sein“.
Regisseurin Lisa Heike Herbst legt behutsam Hand an Plot und handelnde Figuren. Sie lenkt beide vorsichtig durch den Strang, offenbart die Tücken einer keimenden Liaison unter komplexen Bedingungen, hält inne und lässt dann den Faden wieder schnurren. Das ermöglicht ein exzellentes Timing und gönnt Raum für den Zauber des Moments, ironische Einsprengsel und verwirbelnde Augenblicke. Es ist ihre Abschlussarbeit des Regie-Studiums an der Karlsruher Hochschule für Musik.
Die Ausstattung von Nadine Baske und André Meyer zielt auf Gegenwart, begnügt sich mit ein paar Versatzstücken und Accessoires. Hyeryeong Yeon navigiert die Musik am Klavier auf leichtfüßigen Sound, streut mal Balladenton ein, dann lockeres Pop-Geschmeide, schmeißt sich mit Verve an Sondheim. Beste Bedingungen für eine unterhaltsame, wohlig schnurrende Musical-Inszenierung, die nie verkrampft zu psychoanalytischer Tiefenschärfe ansetzt, sondern moderne Allerwelts-Typen auf amourösen Pfaden präsentiert. Ein Vergnügen mit Hintersinn und besten Zutaten ist das optisch wie akustisch überzeugende Resultat. Das Publikum goutiert „Heirat’ mich ein bisschen“ mit freundlichem Beifall.
Musikalische Leitung und Piano: Hyeryeong Yeon • Ausstattung: Nadine Baske und André Meyer • Mit: Lisa Orthuber (Sie), Michael Berner (Er)
Aufmacherfoto: Pawel Sosnowski