
Scharfes Gegenlicht im Aufstieg und Fall von „Chicago“
Wenn man sich so sehr wünscht, den eigenen Namen in der Zeitung zu lesen, muss man dafür auch mal einen Mord in Kauf nehmen. Als ihr Liebhaber im Begriff ist, sie sitzen zu lassen, drückt Roxie Hart ab und findet sich zwischen betrogenen Cell-Block-Babes und Killer-Idol Velma Kelly wieder, die dank Gefängnis-Mama Morton aus dem Kittchen heraus Tourneen absolviert. Auf die Einbuchtung folgt Roxies Ruhm, betrieben vom geldgeilen Anwalt Billy Flynn, der mit seinem Auslegungstalent alle – von Roxies Ehemann Amos über die Presse bis zu den Geschworenen – hinters Licht zu führen weiß. Mit jeder neuen Schlagzeile dreht er den Spieß der Macht erneut. Im Mittelpunkt: das Chicago der 1920er als Herd des Verbrechens und das urmenschliche Bedürfnis nach Anerkennung.
Ein dreckiger Jazzsound tönt aus dem Orchestergraben, wo sonst eher Puccini und Verdi, heute aber unter der Leitung von Piotr Jaworski Tango, Blues und Shimmy zu hören sind. Es knallt, die Einschusslöcher bilden den Titel des Musical-Vaudevilles „Chicago“. Vier gewaltige Treppenmodule versinnbildlichen den gesellschaftlichen Auf- und Abstieg, ihre Neuanordnung konstruiert reduzierte Räume, kommt ohne Schnickschnack aus und wird von kraftvollem Licht belebt. Und von den Akteuren, denn das schwindelfreie Ensemble spielt sich voller Spannung an die Bühnenkante und füllt die düstere Scheinwelt mit kraftvollen, präzise platzierten Choreografien und fetzigen Songs im akzentfreien englischen Original.
An der Spitze der Treppe ist nur Platz für eine und selbst die ist nur einen Schritt davon entfernt, tief zu fallen. An diesem Abend teilen sich zwei Killergirls das Rampenlicht: Karin Seyfried, deren Stimme wie gemacht scheint für diesen Sound, stellt als Velma Kelly einen echten Triple Threat für ihre „Konkurrentin“ Jeannine Michèle Wacker dar. Deren Roxie Hart steht in nichts nach und reißt alles an sich, inklusive des zerschossenen Stücktitels und einer eigenen Miniatur-Treppe, auf der sie ihre Geschichte konstruiert – denn: „Was hat schon die verdammte Wahrheit damit zu tun?“
Billy Flynn steht mit seiner großen Liebe zu sich selbst und zum Geld scheinbar über allem. Fabio Diso spielt überzeugend „das Arschloch“ als eine Art personifiziertes Chicago, doch mit gesanglichem Schalldämpfer vor der Brust kommt er nicht gegen die Damen an. Patricia Hodells Mama Morton wirkt etwas gewollt, die gereizten Growls hat ihre bombastische Stimme nicht nötig. Heimliche Sternchen sind Martin Mulders’ countertenorale Leichtigkeit als Reporterin Mary Sunshine sowie Opernsolist Philipp Kapeller, der als dümmlicher, aber herzallerliebster Ehemann Amos in der finalen Szene tief berührt, wenn er Roxie trotz ihres Betrugs seine fortwährende Liebe schwört – der einzige wahrhaftige Moment der Handlung.
Regisseur Felix Seiler setzt sich mit cleveren Ideen einen sehr hohen inszenatorischen Maßstab, den er nicht ganz bis zum Ende halten kann, denn ausgerechnet die entscheidende Gerichtsszene zieht sich in die Länge. Bei den Kostümen (Timo Dentler und Okarina Peter) wurde ein wenig zu sehr an Glamour gespart, um sich der großen Show zu verweigern. In dieser Inszenierung gehört die Welt den Frauen. Der berühmte „Cell Block Tango“ wird als Female-Rage-Show par excellence gegeben, in der die Männer die Sexobjekte sind. Wieder ein umgedrehter Spieß, diesmal der Alltagsnorm, wobei die in einer Welt, in der Mord als Unterhaltung zählt, kaum moralisch angeprangert wird.
Amos steht als Inbegriff der Unsichtbarkeit ganz am Ende der Nahrungskette, an deren Gipfel Roxie singt: „Manche Menschen sind wie ein Spiegel.“ In diesem Moment fährt genau ein solcher von der Decke. Das mag etwas einfach sein, zeigt aber gelungen die Analyse einer korrupten Gesellschaft im Kontrast zum Funkeln einer oberflächlichen Show-Welt: Den nächsten Hype gibt es immer. Das Publikum tobt zu Recht. Vielleicht verlässt es den Saal sogar mit einem geschärften Sinn für die Showfassaden unseres Alltags.
Musikalische Leitung: Piotr Jaworski • Choreografie: Danny Costello • Ausstattung: Timo Dentler und Okarina Peter • Licht: Fabian Grohmann • Video: Sascha Vredenburg • Ton: Maria Anufriev und Marko Junghanß • Mit: Jeannine Michèle Wacker (Roxie Hart), Karin Seyfried (Velma Kelly), Fabio Diso (Billy Flynn), Patricia Hodell (Mama Morton), Philipp Kapeller (Amos Hart), Richard Patrocinio (Fred Casely), Christopher Bolam (Sergeant Fogarty), James Cook (Geschworenensprecher/Ein Reporter), Martin Mulders (Mary Sunshine), Jessica Rühle (Liz), Daniela Tweesmann (Annie), Janina Moser (June), Maria Joachimstaller (Hunyak/Kitty), Veronica Appeddu (Mona), Robert Johansson (Harrison/Staatsanwalt), Robert Johansson (Harry), Richard Patrocinio (Aaron), Christopher Bolam (Richter) u.a. • Niedersächsisches Staatsorchester Hannover
Aufmacherfoto: Tim Müller