+++ +++ OUT NOW +++ +++ OUT NOW +++ +++ OUT NOW +++ +++ OUT NOW +++ +++
AMY Ein wenig Farbe MuKo2024 c KirstenNijhof 4 | MUSICAL TODAY

Ein wenig Farbe

Wir alle sind Helena

placeholder | MUSICAL TODAY
Ort
Oper Leipzig (Musikalische Komödie)
VON
Rory Six
Regie
Lucia Reichard
Uraufführung
2018

„Ein wenig Farbe“ mit AMY – stark, sensibel, selbstbewusst, schmerzlich

Im Venussaal der Musikalischen Komödie ist Rory Six’ Ein-Personen-Musical „Ein wenig Farbe“ zu sehen. Nach bisherigen Produktionen mit Pia Douwes, Rob Pelzer und Mark Seibert spielt zum ersten Mal eine trans* Musicaldarstellerin Helenas Rückblick neuneinhalb Stunden vor ihrer operativen Geschlechtsangleichung. Zwischen AMY und den bisherigen Besetzungen des Musical-Monologs gibt es nur einen entscheidenden Unterschied: Mit 28 Jahren ist AMY wesentlich jünger als alle bisher weitaus reiferen Darsteller der Helena, die sich im Stück nach langem Eheleben und erst, als die zwei von Helena als Vater gezeugten Söhne studieren, zur Geschlechtsangleichung entschließt. Helenas Ehefrau findet in „Ein wenig Farbe“ nur nach längerem zeitlichem Abstand und erst durch den Kontakt mit einer anderen trans* Frau zur freundschaftlichen Annäherung mit dem früheren Ehepartner. Aber einer der Söhne hält die Funkstille langfristig aufrecht. Aus dem früheren Umfeld bleiben der Bühnenfigur Helena zwei Freund*innen – durchaus realistisch.

Der in vorerst acht Vorstellungen angesetzte Abend ist in mehrerlei Hinsicht denkwürdig, auch wegen der hohen Aufmerksamkeit und sensiblen Reaktionen des Publikums aller Generationen bei der Premiere vor knapp 100 ausverkauften Plätzen. Wir alle sind Helena: Vier Spiegelwände als Frank Schmutzlers Bühnenbild sind Richtung Zuschauerraum gerichtet, in denen das Publikum sich selbst und dann die durch dessen Mitte auftretende AMY sehen kann. Darauf drehen die Spiegelwände und werden zu Schränken, in denen sich große Spielfiguren befinden – dazu ein Krankenhausbett. Das als szenische Methode verwendete Therapiemodell der Familienaufstellung ermöglicht, dass AMY die Dialoge ihrer imaginären Gesprächspartner zwar zitiert, aber nicht spielen muss.

Es gibt nur ein Kostüm und wenige Accessoires (Melchior Silbersack): weißer Hoodie und Schlaghose mit applizierten Glas-Steinchen, also Gala und Alltag für „1 Darsteller*in, 13 verschiedene Rollen und 13 Sichtweisen auf das Leben“. In 80 Minuten wird dieser sicher auch sportive Alleingang von einer Salon-Band unter Kathryn Bolitho ergänzt, die durch ihren Job als Korrepetitorin an der Oper Leipzig besonders stimmsensibel ist. Die Frauen und Männer aus dem Orchester der Musikalischen Komödie machen Musical-Kammermusik vom Feinsten.

AMY zieht alle Register, aber sie zieht keine Klischee-Schubladen und drückt nicht aufs Pointen-Knöpfchen. Immer wieder gelingt es ihr, jede Person im Publikum anzusprechen und manchmal sogar gedanklich wachzuküssen. Sie setzt nicht auf den Glamour- und Kampfpunkt „I Am What I Am“, sondern auf den abenteuerlichen Weg dahin – Selbstreifungsprozess inbegriffen. Deutlich werden in Rory Six’ Text die Anstrengungen des Lernens, Loslassens, Aneignens. Und vor allem der Glaube an den Sinn, aber auch die Richtigkeit der Entscheidung: Die Szenen beinhalten Erinnerungen an Helenas Gespräche mit der Mutter, der Psychotherapeutin, mit der beim Lernen des öffentlichen Auftretens als Frau helfenden Dragqueen bis zum Kontakt mit gleichgültigen Ärzten und verständnislosen Chefs.

Lucia Reichard gelingt in enger Umschließung von Text und Musik eine genaue und gerade deshalb glaubwürdige Inszenierung. Die beste Regie sei jene, die man nicht merkt, lautet ein verbreitetes Theater-Bonmot. Das wird hier bestätigt und bewahrheitet. In einer anderen Konstellation hätte „Ein wenig Farbe“ zu einer Betroffenheitsshow mit Exhibitionismus- und Voyeurismus-Appeal werden können. AMYs durch die Regie fokussierte Präsenz bewirkt dagegen eine gewinnende Leichtigkeit für Inhalt und Darstellung. Die große Hit-Mitte hat Rory Six’ Stück nicht. Dafür werden viele der durch die Bank sinnigen und schönen Songs fast zu Chansons, welche das Gesagte verdichten und vertiefen. Langer zustimmender Applaus und Jubelblitze.

(Das Vokabular dieses Textes folgt „AMYs Trans* Bullshit Bingo“ im Programmheft.)


Musikalische Leitung: Kathryn Bolitho • Bühne: Frank Schmutzler • Kostüme: Melchior Silbersack • Mit: AMY (Helena) • Mitglieder des Orchesters der Musikalischen Komödie

Aufmacherfoto: Kirsten Nijhof

Spielorte

Archiv

Newsletter
Newsletter

Immer auf dem Laufenden bleiben!