„Grand Hotel“ im Theater Lüneburg
Bleich ist die einstige Grandezza, zerbröselt die Illusionen. Stofffetzen hängen von der Decke, Kronleuchter stehen in den Ecken, Rauch zieht durch die Lobby, kein guter Ort für Luxus und schillernden Schein. Menschen schleichen dorthin, Schatten ihrer selbst. Es bleibt ein schales Erinnern, ein letzter Tanz vor dem klaffenden Abgrund, noch einmal hysterische Fröhlichkeit, bevor die Abrissbirne endgültige Tatsachen schafft. So beginnt „Grand Hotel“ im Theater Lüneburg: expressionistische Bilder aus dem Berlin von 1928 mit Verweisen auf die Gegenwart. Alles erodiert, Karrieren und Hoffnungen, die Wirtschaft schwächelt, die Demokratie steht auf der Kippe. Am Ende sitzen Braunhemden mit Hakenkreuzen am Tisch und grölen. Es wird brenzlig im Staat.
Das Stück fußt auf Vicki Baums berühmtem Roman „Menschen im Hotel“ von 1929. Schon drei Jahre später lieferte Hollywood eine Filmversion mit Greta Garbo, es folgten weitere. 1958 bastelten Luther Davis, Robert Wright und George Forrest daraus eine Musical-Adaption, die es allerdings nicht bis an den Broadway schaffte. 1989 legte Komponist und Songtexter Maury Yeston („Titanic“, „Nine“) nochmals sorgfältig Hand an, orientierte sich wieder eng an der Vorlage. Damit glückte der erfolgreiche Sprung nach New York, dem bald die deutsche Erstaufführung im Berliner Theater des Westens folgte. Seither stieß „Grand Hotel“ hierzulande aber nur auf verhaltene Resonanz.
Menschen im Transfer führt das Musical vor. Sie kommen und gehen, wie Umstände und Konjunkturen, politische Ereignisse und Schicksale. Dreh- und Angelpunkt ist die in Lüneburg ziemlich kaschemmige Nobelherberge. Dort wartet Flämmchen auf ihr Glück beim Film, die alternde Primaballerina Gruschinskaja auf Elogen, Otto Kringelein auf finale Freude vor dem Tod, Baron von Gaigern auf schnelle Diebesbeute, Generaldirektor Preysing (Karl Schneider) auf steigende Kurse, derweil Dauergast Oberst Otternschlag (Marc Westphal) das Geschehen im Hotel kommentiert. Die Stimmung ist gereizt und gehetzt, die Zeichen stehen auf Sturm.
Philipp Kochheim inszeniert mit heißem Atem, kondensiert den Kern, gönnt keine Ruhe. Knapp zwei pausenlose Stunden hechelt sich das Ensemble durch die Handlung, überdreht und mächtig unter Strom. Wie im Zeitraffer laufen die Stränge kaleidoskopartig aufeinander zu. Der Regisseur löst das Wirrwarr, ohne sich zu verheddern, den Plot intellektuell zu überfrachten oder die Szenen plump plakativ erscheinen zu lassen. Trotz des enormen Tempos gelingen ihm sogar ausgefeilte Charakterstudien, Momente des kurzen Innehaltens, emotionale Lichtpunkte im allgemeinen Dunkel. Die Ausstattung von Barbara Block entwirft breite Räume für ständige Bewegung, das Outfit verweist auf die späten 20er Jahre. Der wenig geforderte Choreograf Riccardo de Nigris akzentuiert das Karikatureske. Die fast durchkomponierte Partitur verwaltet Gaudens Bieri mit größter Sorgfalt und Sinn für zahlreich addierten Stimmungswandel. Charleston und Balladen wechseln sich ab, rezitative Teile und ausgelassene Songs wie „Hollywood“ oder „We‘ll Take a Glass Together“. Die Lüneburger Symphoniker sind immer konzentriert dabei.
Dennoch: die besondere Qualität des Musicals liegt im Buch. Das hat reichlich Substanz und die Inszenierung edelt die von Roman Hinze klug übersetzten Textpassagen. Das Ensemble fügt sich in Kochheims Lesart hoch diszipliniert und extrem spielfreudig. Diese Tour de force durchlaufen alle mit rasant pochender Energie. Masha Karell als exaltierte, zugleich fragile Gruschinskaja, Frank Logemann als jüdischer Buchhalter Otto Kringelein mit kämpferischem Aufbäumen gegen seine Krankheit, die naiv leidenschaftlich lodernde Flämmchen von Katharina Maria Abt und der jugendlich alerte Hoteldieb mit Adelstitel Markus Schneider als Baron von Gaigern hieven dem heftig geforderten Apparat die Krone auf. Keine Sekunde Langeweile beschert „Grand Hotel“ dem Publikum, sondern pralles, hintergründiges Theater in Bestform: Dafür spendiert das Publikum Standing Ovations.
Musikalische Leitung: Gaudens Bieri · Choreografie: Riccardo de Nigris · Ausstattung: Barbara Bloch · Darsteller: Masha Karell (Elisawetha Gruschinskaja), Frank Logemann (Otto Kringelein), Katharina Maria Abt (Flämmchen), Markus Schneider (Baron von Gaigern), Karl Schneider (Generaldirektor Preysing), Kirsten Patt (Raffaela Ottonio), Marc Westphal (Oberst Otternschlag)
Aufmacherfoto: Jochen Quast