
Die „West Side Story“ ins Zeitlose gerückt
Karge Fassaden, vergilbte Werbung, Grautöne: Es ist keine schöne Welt, in der Jugendliche auf der dunklen Seite von Manhattan zu Erwachsenen reifen oder abrutschen in Gewalt, Abgrenzung, Frust, Perspektivlosigkeit. Bleibt die Suche nach Peergroups, um wenigstens dort Anerkennung zu finden. Die Jets und Sharks bieten solche Gelegenheit, bekämpfen sich gegenseitig, doch dann keimt zwischen den hermetisch gezirkelten Trennlinien eine Liebe, die nicht sein darf und darum blutig endet.
Die „West Side Story“ von Arthur Laurents (Buch), Stephen Sondheim (Gesangstexte) und Leonard Bernstein (Musik) erzählt diese Geschichte direkt, schonungslos und glaubwürdig. Ein Klassiker, zweimal verfilmt und endlos nachgespielt seit der Broadway-Uraufführung 1957. Die stringente Adaption von Shakespeares „Romeo und Julia“ überträgt den Stoff in das New Yorker Elend der 50er Jahre geradezu archetypisch. Auf jede Aktualisierung kann getrost verzichtet werden, der Plot entfaltet auch so genügend Wirkung. Im Theater Lüneburg beweist Regisseur und Choreograf Olaf Schmidt, unterstützt von Christina Schmidt, die ungebrochene Brisanz des Musicals in einer atmosphärisch dichten, oft beklemmenden und ins Zeitlose gerückten Inszenierung.
Olaf und Christina Schmidt ließen sich von Barbara Bloch ein zugleich schlichtes und aussagekräftiges, fast abstraktes Bühnenbild bauen. Über der Szene prangt jene Werbung, die Glück verheißt, Sehnsüchte illustriert, den „American Way of Life“ propagiert. Darunter, in der realen Welt, sieht es viel düsterer aus. Junge Leute mit und ohne Migrationshintergrund verlieren sich im Kampf um jeden Meter Straße, verrohen in Wut, Frust, Perspektivlosigkeit und zelebrierten Stereotypen. Das schafft trügerische „Corporate Identity“. Kein Glück, keine Hoffnung keimt hier, selbst das bewegende „Somewhere“ ist nicht mehr als eine vage Utopie ohne Substanz. Überhaupt greift Bernsteins Musik diese Konstellation dramaturgisch exzellent auf, jeder Song befördert die Emotionen der Jugendlichen ans Tageslicht und Thomas Dorsch hat die Lüneburger Symphoniker auf den unverwechselbaren Sound hervorragend präpariert.
Als Choreograf folgt Olaf Schmidt dem monströsen Fußabdruck von Jerome Robbins und entwickelt dabei auch ein eigenes, markantes Bewegungsvokabular, das den gesamten Apparat durch knapp drei Stunden trägt und stets neue optische Reize bietet. Jenseits konkreter Zeitbezüge sind die Kostüme von Susanne Ellinghaus geschneidert. Das passt exakt zum Konzept. Was zu sehen ist, kann vor 60 Jahren oder heute, in New York, London oder Berlin sein. Die Jets proklamieren ihren verteidigten Platz auf der Upper West Side in Tanktop und schwarzer Bomberjacke. Ihr Anführer ist Riff, der Chaot von nebenan, welcher später in pure Gewalt abdriftet, um sich zu beweisen. Sander van Wissen verkörpert exzellent die Ambivalenz aus Kommando-Ton und der Unsicherheit eines Teenagers aus dysfunktionalem Elternhaus. Riffs bester Freund, Tony, wird vom Shooting-Star des Abends, Lukas Witzel, verkörpert, der vor allem im Gesang prächtig überzeugt. Eindringlich und mit Inbrunst intoniert er den Namen seiner geliebten Maria, exzellent dargestellt durch Marlene Jubelius. „The beautiful sound of the world“, wie Tony intoniert, bleibt vielen Gästen noch zur Pause im Ohr. Die Sharks, auf der anderen Seite der Banden-Rangeleien, werden von Tamás Mester als hoch präsentem Bernardo glaubwürdig angeführt. Neben den exzellent trainierten Tänzern des Lüneburger Balletts beindrucken daneben Natascha C. Hill als Anita und Philipp Lang als Action.
Lediglich einige der jazzig inspirierten Songs wollen nicht so richtig mit den erträumten Fantasien des American Dreams der 1950er mithalten, ansonsten hat Thomas Dorsch als musikalischer Leiter mit den Lüneburger Symphonikern die Partitur von Bernstein fest im Griff. Das Publikum spendiert am Ende ausgiebige Standing Ovations. Ein gelungener All-Time-Klassiker und würdiger Abschied für den scheidenden Intendanten des Lüneburger Theaters, Hajo Fouquet.
Musikalische Leitung: Thomas Dorsch • Choreografie: Olaf Schmidt • Bühne: Barbara Bloch • Kostüme: Susanne Ellinghaus • Licht: Alex Brok • Sounddesign: Martin Lukesch • Mit: Lukas Witzel (Tony), Sander van Wissen (Riff), Philipp Lang (Action), Tamás Mester (Bernardo), Marlene Jubelius (Maria), Natascha C. Hill (Anita), Oliver Hennes (Officer Krupke) u.a. • Lüneburger Symphoniker
Aufmacherfoto: Jochen Quast