Andrew Lloyd Webbers „Love Never Dies“ holt das Phantom nach Manhattan
Das Phantom ist zurück. Zehn Jahre nach seinem vermeintlichen Tod in den Katakomben der Pariser Oper taucht es in New York wieder auf, als Besitzer des Vergnügungsparks „Phantasma“ im Amüsierviertel Coney Island. Hier kommt es zur Konfrontation mit seiner damaligen Muse Christine, die mittlerweile mit Raoul verheiratet ist und einen Sohn, Gustave, hat. Verdrängte Gefühle kochen wieder hoch, spitzen sich bis zum unerwarteten Showdown zu. Das Ende sei hier nicht verraten, nur eines: Eine weitere Fortsetzung kann es nicht mehr geben. „Love Never Dies“ schreibt das Kultmusical „Das Phantom der Oper“ fort, das Andrew Lloyd Webber einen bis heute anhaltenden Publikumsrenner bescherte.
Wen wundert es, dass der Komponist von „Cats“ und „Evita“ versuchte, daran anzuknüpfen und einen weiteren Hit zu landen. Dafür benutzte er als Vorlage den Roman „The Phantom of Manhattan“ des Bestsellerautors Frederick Forsyth. Ein großer Triumph blieb „Love Never Dies“ versagt, sowohl in London nach der Uraufführung 2010 als auch bei den weiteren Stationen in Wien, Kopenhagen oder Hamburg. In Magdeburg allerdings, dessen Stadttheater als erstem der Coup gelang, die Aufführungsrechte zu erhalten (in der nächsten Saison folgt Lüneburg), ist der Erfolg vorprogrammiert. Denn „Love Never Dies“ ist die Attraktion des desjährigen DomplatzOpenAirs und die Vorstellungsserie schon vor der Premiere ausverkauft.
Jürgen Franz Kirner hat die große Bühne in einen Rummelplatz mit surrealen Elementen verwandelt. Auf der einen Seite befindet sich ein Karussell, auf der anderen ein sich drehender Phantomkopf, dessen offene Hinterseite Christines Garderobe darstellt. Ein kleines Gewässer im Vordergrund bietet Raum für illustrative Bootsfahrten, eine Eiffelturm-Attrappe spielt auf die Vorgeschichte an. Die Flucht des Phantoms nach seinem vorgetäuschten Tod zeigt Regisseurin und Choreografin Pascale-Sabine Chevroton während der Ouvertüre plausibel als Rückblende, danach springt die Handlung in die Gegenwart. Christine, Raoul und Gustave fahren in einem roten Fantasie-Auto vor, begrüßt von einer schwarzgewandeten, fahnenschwenkenden Fangemeinde. Dann stürmen weiß gekleidete Pierrots und Harlekine (Kostüme: Tanja Liebermann) auf die Bühne, sie bilden mit ihren zirzensischen Darbietungen den Kontrast zum melodramatischen Geschehen. Chevroton gelingt eine gut austarierte Inszenierung aus facettenreicher Personenregie, Revue-Einlagen – etwa das Nixen-Ballett oder der gespenstische Tanz der Badegesellschaft – und Varieté-Nummern mit Artistin Nina Kemptner als Christines Alter Ego.
Patrick Stanke zeigt sich als charismatisches Phantom, dem man die musikalische und emotionale Besessenheit durchweg abnimmt, dazu ist er prächtig bei Stimme. Glaubwürdig verkörpert Martina Lechner das Gefühlschaos von Christine, die zwischen aufbrechender Liebe, Mutterpflichten und künstlerischer Verwirklichung hin- und hergerissen ist. Mit bemerkenswertem Durchhaltevermögen meistert sie die Anforderungen der extrem hohen Partie, die im ohrwurmträchtigen Titelsong gipfelt. Nachhaltigen Eindruck hinterlässt Sarah Gadinger in der Hosenrolle des Gustave. Mit kindlicher Unbekümmertheit wirbelt sie über die Bühne, bis sie in die familiären Abgründe hineingezogen wird und die Sorglosigkeit in Angst umschlägt. Starke Rollenporträts glücken auch Sebastian Seitz als in den Alkohol flüchtender Raoul, Manja Stein als dem Phantom treu ergebene Madame Giry und Sophia Gorgi als deren auf den Durchbruch wartende Tochter Meg.
Die Magdeburgische Philharmonie, platziert im geöffneten Mund einer riesigen Clownsfratze, schwelgt unter der Leitung von Paweł Popławski im bombastischen Lloyd-Webber-Sound, badet in Streicherwogen und opernhaften Arien – nicht umsonst erhielt der Song „Love Never Dies“ vor Jahren durch Opernstar Kiri Te Kanawa höhere Weihen. Der Premierenapplaus ist riesig, das Phantom hat in Magdeburg die Herzen gewonnen.
Musikalische Leitung: Paweł Popławski • Regie und Choreografie: Pascale-Sabine Chevroton • Bühne: Jürgen Franz Kirner • Kostüme: Tanja Liebermann • Chor: Martin Wagner • Mit: Patrick Stanke (Das Phantom), Martina Lechner (Christine Daaé), Sebastian Seitz (Raoul, Vicomte de Chagny), Manja Stein (Madame Giry), Sophia Gorgi (Meg Giry), Thomas Wißmann (Gangle), Dani Spampinato (Squelch), Maike Katrin Merkel (Fleck), Sarah Gadinger (Gustave) • Opernchor und Ballett des Theaters Magdeburg • Magdeburgische Philharmonie
Aufmacherfoto: Andreas Lander