Der Klassiker „Chicago“ in einer perfekt getimten, erstklassigen Inszenierung
In einem Interview bezeichnete John Kander seinen Broadway-Dauerbrenner „Chicago“ kürzlich als recht brav und ergänzte: „Heute würde ich das Stück deutlich frecher auf die Bühne bringen.“ Sei’s drum, das Musical fiel schon bei seiner Uraufführung 1975 ziemlich aus der Rolle, machte vor allem mit dem New Yorker Revival 1996 mächtig Furore und markierte fortan Rekorde. Immer noch zieht das bissig-satirische Stück über die in den 20er Jahren gängige Korruption in der „Windy City“ am Michigansee durch sein rasantes Buch und eine knallig-grelle Musik rund um den Globus das Publikum an. Die mordenden und äußerst lasziven Knast-Ladies zelebrieren lustvoll den brodelnden Jazz hinter Gittern und zeigen selbstbewusst Männern ihre blutigen Krallen mit verführerischer Unschuldsmiene. Nun auch am Landestheater Neustrelitz, wo Regisseurin und Choreografin Amy Share-Kissiov eine kurzweilige, knackige Show auf die Bretter zaubert.
Nach „Cabaret“ legten Fred Ebb und John Kander mit „Chicago“ einen weiteren Evergreen hin, der zeitlos und frisch wirkt. Die Geschichte von Velma, Roxie, Anwalt Billy Flynn, Aufseherin Morton, Klatschreporterin Mary Sunshine, dem gehörnten Ehemann Amos Hart und den Schicksalsgenossinnen ist temporeich und kaleidoskopartig erzählt. Der Sound greift den Ton der damaligen Zeit auf, entsprechend pulsiert der Jazz aus sämtlichen Poren. David Levi bringt die von ihm geleitete Neubrandenburger Philharmonie sofort auf Hochtouren, um jede Facette aus der Partitur heraus zu kitzeln und den Songs reichlich Pfeffer zu geben. Zur hellsten Freude der Besucher, die auf Anhieb in beste Stimmung kommen.
Amy Share-Kissiov setzt mit ihrer kreativen Choreografie und klug durchgearbeiteten Regie auf pulsierende Bewegung. Dafür nutzt sie die fleißig rotierende Drehbühne. Vor der legendären Chicago-Kulisse spielt sich das trubelig-wuselige Geschehen ab. Bühnenbildnerin Olga von Wahl begnügt sich mit wenigen Andeutungen, um rasant zwischen Gefängnis, Kanzlei und Gerichtssaal zu pendeln. Alles ist im Fluss und irgendwie auch aus den Fugen. Recht und Unrecht, Käuflichkeit und perfide Schlagzeilen-Geilheit der Medien purzeln hier prächtig und lustvoll durcheinander. Alexandra Bentele kleidet das Ensemble im Stil der „Roaring Twenties“, verwegen körperbetont und gern mit Glitzerflitter. Im Epizentrum steht addierter Schwindel, von der Biografie bis zur Verhandlung mit geballtem Tränendrüsen-Effekt. Am Ende mutiert der Conferencier (Markus Kopp) zur gestenreichen Donald-Trump-Kopie, er hat die Killer-Girls Velma und Roxy lüstern im Visier. Die Gegenwart wiederholt, so die klare Botschaft, das einst bewährte „The Show Must Go On“-Muster, inklusive aktuellem „America first“-Plädoyer.
Die Lesart der Regisseurin geht auf, wirkt stringent und sehr unterhaltsam. Sämtliche Charaktere sind pointiert, geschärft und ironisch überhöht, ohne zur Karikatur zu geraten. Das Ensemble lässt „Chicago“ vom ersten Moment an richtig krachen. Laura Scherwitzl als durchtriebene, jedes Gefühlsregister ziehende Roxy Hart und Laura Albert als ihre ebenfalls gerissene Widersacherin Velma Kelly tanzen, singen und spielen sich mit Verve durch die rund drei Stunden, assistiert von Andrés Felipe Orozco als skrupellos-schmierigem Anwalt Billy Flynn, der extrovertierten Mary Sunshine von Barbara Legiehn, der hundsordinären Knast-Leiterin Morton (Julia Baier-Tarasova) und dem biederen Cellophan-Softie Amos Hart von Sebastian Naglatzki. Der agile Opernchor sowie die gelenkigen Akteurinnen und Akteure der Deutschen Tanzkompanie schmiegen sich kongenial in diese perfekt getimte, erstklassige Inszenierung. Das Landestheater platziert mit „Chicago“ ein Bestsiegel-Ausrufezeichen – das Publikum reagiert am Ende mit langen Ovationen.
Musikalische Leitung: David Levi • Regie und Choreografie: Amy Share-Kissiov • Bühne: Olga von Wahl • Kostüme: Alexandra Bentele • Chor: Joseph Feigl • Mit: Markus Kopp (Conferencier), Laura Albert (Velma Kelly), Laura Scherwitzl (Roxie Hart), Andrés Felipe Orozco (Billy Flynn), Sebastian Naglatzki (Amos Hart), Julia Baier-Tarasova (Oberin Morton), Barbara Legiehn (Mary Sunshine), Krysztof Napierala (Fred Casely), Sylke Urbanek (Liz), Gabrielle Penney (Annie), Grit Kolpatzik (June), Clarissa Gehring (Hunyak), Fernanda de Araujo (Mona) u.a. • Opernchor der TOG • Deutsche Tanzkompanie • Neubrandenburger Philharmonie
Aufmacherfoto: TOG/Jörg Metzner