
Das „Ragtime“-Revival übertrifft sogar die damalige Originalproduktion
Die mitreißende Musicaladaption des 1975 erschienenen Romanklassikers „Ragtime“ von E. L. Doctorow kehrt für begrenzte Zeit ins Vivian Beaumont Theater an den Broadway zurück – in einer optisch so aufwendigen Neuinszenierung, dass sie das 1998 in New York mit großem Beifall aufgenommene Original und ein früheres Revival aus dem Jahr 2009 noch übertrifft. Mit ihrem ambitionierten Umfang und dem opernhaften Charakter ragt sie in jeder Hinsicht als eine Produktion in der großen, klassischen Musical-Tradition des Broadway heraus, markant und tief beeindruckend, mit einer hervorragenden Besetzung, die grundsolide Interpretationen der melodischen und unvergesslichen Songs auf die Bühne bringt.
Die Handlung von „Ragtime“ spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts und behandelt Themen wie blanken Rassismus oder die Not der Einwanderer; sie sind im derzeitigen politischen Klima noch genauso aktuell wie damals, was das Stück heute noch wichtiger macht als zu seiner Entstehungszeit. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Figuren aus drei Volksgruppen, die in der jungen Industrienation USA ums Überleben und um die Vorherrschaft kämpfen. Die Familie aus der weißen, angelsächsischen Elite ist bereits politisch etabliert und kontrolliert die wirtschaftlichen Ressourcen des Landes; sie besteht aus einem Forscher, der zum Nordpol reisen will, seiner Frau und ihrem idealistischen jüngeren Bruder, der seine inneren Beweggründe sucht. Der schwarze Pianist Coalhouse Walker befreit sich dank seines musikalischen Talents am Ende aus der Armut; er liebt Sarah, die Mutter seines kleinen Jungen. Der Künstler Tateh stammt aus der Mitte osteuropäischer jüdischer Einwanderer, er erfindet für seine kranke Tochter das „bewegte Buch“, bevor er ein Filmmogul wird. Die Unterschiede und Antagonismen zwischen den drei Gruppen werden gleich in der Eröffnungsnummer „Ragtime“ deutlich, die sich als kaleidoskopische Vision zu den synkopischen Klängen dieser populären Musik auf der großen Bühne entfaltet.
Unterbrochen werden die fiktionalen Szenen der Handlung durch reale historische Persönlichkeiten wie den großen Zauberer Harry Houdini oder das Model Evelyn Nesbit, das durch den Mord ihres Ehemanns an ihrem Liebhaber Stanford White, dem berühmten Architekten, Bekanntheit erlangte. Sie alle geben ihre eigenen Kommentare über den amerikanischen Traum ab, sekundiert von anderen Prominenten, die ebenfalls ihre Spuren in der amerikanischen Geschichte hinterlassen haben, etwa der Bankier J.P. Morgan, der Autobauer Henry Ford und der Bürgerrechtler Booker T. Washington. Ihr Mitwirken erlangt gelegentlich sogar Bedeutung für die Handlung, aber meist scheinen die Figuren nur zum Namedropping zu existieren, wobei das Werk diese Art von Aufmerksamkeit gar nicht nötig hat, um sich zu profilieren. In vielerlei Hinsicht sind die Rollen besonders trefflich besetzt, so beeindrucken Joshua Henry als Coalhouse Walker, Nichelle Lewis als seine Frau Sarah, Caissie Levy als Mutter und Brandon Uranowitz als Tateh, der jüdische Einwanderer.
Veranschaulicht werden die Ereignisse durch die denkwürdige Partitur von Stephen Flaherty (Musik) und Lynn Ahrens (Texte). In der eingängigen Mischung aus musikalischen Nummern greifen mehrere Songs die Ragtime-Klänge der damaligen Zeit auf, es gibt romantische Balladen und spektakuläre Ensemblenummern, unter denen „A Shtetl Iz Amereke“, „New Music“, „Till We Reach That Day“, „Sarah Brown Eyes“ und der Titelsong absolut herausragen. Lear deBessonets flüssige Regie und Ellenore Scotts eloquente Choreografie der musikalischen Nummern sind eindeutige Pluspunkte.
„Ragtime“ ist eine großartiger Theaterabend, etwas zu lang vielleicht, aber dennoch ein überwältigendes Spektakel. Hinter all dem Glanz, der die Produktion über die Norm hinausgehoben und zu einem durchschlagenden Erfolg gemacht hat, steht das Werk selbst meilenweit über dem, was man normalerweise am Broadway sieht.
(Übersetzung: Angela Reinhardt)Musikalische Leitung: James Moore • Regie: Lear deBessonet • Choreografie: Ellenore Scott • Bühne: David Korins • Kostüme: Linda Cho • Licht: Adam Honoré • Projektionen: 59 Studio • Sounddesign: Kai Harada • Mit: Joshua Henry (Coalhouse Walker, Jr.), Caissie Levy (Mother), Brandon Uranowitz (Tateh), Colin Donnell (Father), Nichelle Lewis (Sarah), Ben Levi Ross (Mother’s Younger Brother), Shaina Taub (Emma Goldman), Anna Grace Barlow (Evelyn Nesbit), John Clay III (Booker T. Washington), Rodd Cyrus (Harry Houdini), Nick Barrington (The Little Boy), Tabitha Lawing (The Little Girl) u.a.
Aufmacherfoto: Matthew Murphy




