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Westsidestory 29 | MUSICAL TODAY

West Side Story

Der Klassiker auf der Treppe

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Freilichtspiele Schwäbisch Hall
von
Leonard Bernstein (Musik)
Arthur Laurents (Buch)
Stephen Sondheim (Gesangstexte)
Regie
Christian Doll
Uraufführung
1957

Musikalisch fetzig, ansonsten ein wenig brav: die „West Side Story“ komplett in deutscher Sprache

Der amerikanische Traum ist auf der Haller Treppe zerbrochen. In riesigen, mehrere Stockwerke hohen Trümmern liegen die Fackel und der Strahlenkranz der Freiheitsstatue auf den berühmten Stufen vor St. Michael. Die Hoffnungs-Figur für so viele Einwanderer über die Jahrhunderte ist gestürzt, symbolischer als in Fabian Lüdickes Bühnenbild kann’s kaum werden. Und sehr viel aufregender wird es auch in der Inszenierung von Christian Doll nicht. Werktreu ist schon recht, aber so ganz brav am Buch entlang muss es vielleicht doch nicht sein.

Die traditionsreichen Freilichtspiele im Hohenlohischen feiern in diesem Jahr ihr 100. Jubiläum. Dafür haben Sponsoren neue Stühle und einen neuen, fest gebauten Orchesterpavillon auf der rechten Empore vor der majestätisch aufragenden Kirche gespendet. Heiko Lippmann und sein 20-köpfiges, für Open-Air-Verhältnisse wahrlich luxuriös besetztes Orchester nutzen ihr neues Domizil für einen dynamisch differenzierten Sound und ziehen vor allem in den lateinamerikanischen Rhythmen immer wieder rasant das Tempo an.

Der erste Tänzer zitiert gleich die berühmte Pose mit dem weit hinaufgekickten Bein, die aus der Eröffnungsnummer des damaligen Regisseurs und Choreografen Jerome Robbins stammt. Kaum eine Inszenierung dieses Broadway-Klassikers kommt ohne seine Inspiration aus, auch hier entwickelt Kati Farkas wie das große Vorbild den Tanz oft aus dem Schlendern heraus. Sie zeigt die Tänzer immer wieder von der Seite, was die schnelle Bewegung auf den kurzen, steilen Stufen vielleicht einfacher macht. Denn es fehlt absolut an nichts – nicht am fetzigen Mambo, an den zwei großen Kreisen beim Kennenlern-Tanz im Gym, an weit schwingender Sinnlichkeit für die Puerto Ricaner und einer athletisch-aggressiven, eher in die Vertikale gehenden Choreografie für die Jets. Etwas Augenrunzeln verursacht höchstens die große Traumszene zu „Somewhere“ – aber „Somewhere“ wird hier auch gar nicht gesungen, sondern „Irgendwo“, und zwar traumverloren schön von Anybody’s (Mirjam-Magdalena Wershofen).

Die „West Side Story“ geht so oft in englischer Version auf Tournee und ist dann so oft für deutsche Theater gesperrt, dass man den deutschen Text kaum mehr kennt und hier fast etwas fremdelt – zu bekannt und zu gut sind einfach Stephen Sondheims Original-Lyrics. Das große, junge Ensemble ist bestens ausgewählt, der Gegensatz zwischen (polnischen) Amerikanern und Latinos wird deutlich, alle Stimmen klingen voll und satt: Malcolm Quinnten Henry als Bernardo, Simon Staiger als Riff und vor allem Amani Robinson als temperamentvolle, geerdete Anita. Ausgerechnet Tony alias Julian Culemann fällt ein klein wenig ab – Leonard Bernsteins Melos ist für einen reich timbrierten, eher von der Oper stammenden Tenor komponiert, dieser Tony klingt einfach arg normal. Und ist ein derart netter, unkompliziert-gutherziger Mensch, dass man ihm den plötzlichen Impuls, Bernardo umzubringen, kaum glauben mag. 

Leicht und glockenhell schwingt sich Katia Bischoffs Sopran hinauf, ihre Maria sprüht vor Jugend und freudiger Erwartung auf das Leben. Allein die große Liebe zwischen Romeo und Julia von der West Side wirkt hier völlig normal, ja fast geflissentlich. Da ist kein Flüstern, kein Stocken, kein zartes Pathos in ihren schönen Dialogen, Maria ist nicht scheu, man merkt nichts von der damaligen Erziehung und nichts vom Donnerschlag einer Liebe auf den ersten Blick. Wobei es einfach schwer ist, die erste, wortlose Begegnung der Liebenden aus der großen Menge herauszuleuchten, wenn die Sommernacht um neun Uhr abends noch strahlend hell ist; die coolen Licht- und Nebeleffekte gibt es erst eine Stunde später. So bringt diese Aufführung der „West Side Story“ bei all ihrer musikalischen und choreografischen Qualität keine wirkliche Überraschung, sondern überzeugt einfach als einer der bleibenden Klassiker des Musiktheaters. Auch nicht schlecht.


Musikalische Leitung: Heiko Lippmann • Choreografie: Kati Farkas • Kampfchoreografie: Moritz Fleiter • Bühne: Fabian Lüdicke • Kostüme: Kati Kolb • Licht: Ralf Wappler • Sounddesign: Simon Hüging • Mit: Julian Culemann (Tony), Simon Staiger (Riff), Paul Fruh (Action), Anton Schweizer (A-Rab), John Achim Himmelbauer (Baby), Johannes Summer (Snowboy), Tobias Blinzler (Big Deal), Tayler Davis (Diesel), Kelly Panier (Graziella), Zarah Frola (Velma), Veronika Enders (Minnie), Mirjam-Magdalena Wershofen (Anybody’s), Katia Bischoff (Maria), Amani Robinson (Anita), Malcolm Quinnten Henry (Bernardo), Oliver Aagaard-Williams (Chino), Felipe Ramos (Pepe), Nayim Temine (Indio), David Valls (Luis), Pierpaolo Scida (Anxious), Grace Simmons (Rosalia), Salomé Ortiz (Consuelo), Lisa Wissert (Teresita), Liviana Degen (Francisca), Gloria Enchill (Estella), Andrea Matthias Pagani (Doc), Claudius Freyer (Schrank/Glad Hand), Johannes Schön (Krupke)

Aufmacherfoto: Freilichtspiele Schwäbisch Hall/Ufuk Arslan

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