
Das Kammermusical „Briefe von Ruth“ erinnert an das tragische Schicksal der Wiener Jüdin Ruth Maier
Ein junges Mädchen mit dunklen Locken steht in einem biederen, karierten Rock und einem gestreiften Pullunder auf der Bühne. Diese wird dominiert von einem massiven, auf das Dach gedrehten Viehwaggon, umgeben von aufgetürmten, altmodischen Koffern. Die Szenerie sendet ein klares Signal, die Verortung ist eindeutig: Hier regieren die Nationalsozialisten. So vieles könnte das Schicksal für Ruth Maier bereithalten – doch das tut es nicht. Die Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz setzt dem jungen Leben der Wiener Jüdin ein jähes Ende.
Der bedrückende Stoff des Kammermusicals „Briefe von Ruth“ basiert auf einer wahren Geschichte. Ruth wird 1920 in Wien geboren und lebt dort mit ihrer Mutter und Schwester, der Vater ist früh verstorben. Sie schwärmt für das Theater, träumt von einem Künstlerleben und von der großen Liebe. 1939 verändert sich ihr Leben gravierend: Ihre Schwester wird mit einem Kindertransport nach England geschickt, Ruth selbst kommt nach Norwegen zu einem Bekannten ihres Vaters. Das Leben im hohen Norden gestaltet sich schwierig, ein psychischer Zusammenbruch folgt. Ein Wunsch an die Zukunft aber wird ihr erfüllt: Ruth erlebt eine große Liebe – und zwar zu Gunvor Hofmo. Doch den beiden Frauen ist nicht viel Zeit zusammen vergönnt. 1942 wird Ruth nach Auschwitz deportiert und ermordet. Ihre zahlreichen Tagebücher wurden von Hofmo aufbewahrt und bilden – ebenso wie Ruths Briefe an ihre Schwester – die Grundlage für das Libretto von Aksel-Otto Bull und Gisle Kverndokk. Die Schriftstellerin Gunvor Hofmo gilt als eine der bedeutendsten Vertreterinnen der modernen norwegischen Lyrik und ist dort Teil der Schulliteratur. Über den Verlust ihrer Freundin ist Hofmo nie hinweggekommen.
Der 58-jährige Komponist Gisle Kverndokk ist umtriebig und setzt große Stoffe gerne musikalisch um: „Sofies Welt“, „Gefährliche Liebschaften“ oder „Fanny und Alexander“ zählen zu seinen bekanntesten Werken. Die Uraufführung von „Briefe von Ruth“ fand 2023 im oberösterreichischen Gmunden statt. Die Produktion wurde begeistert aufgenommen und gewann in vier Kategorien den Deutschen Musical Theater Preis. Das Stück wird als Kammermusical bezeichnet: Wer flotte Tanznummern und eingängige Ohrwürmer erwartet, wird enttäuscht, wenngleich der Humor trotz des bedrückenden Themas nicht fehlt. Die Grundstimmung ist jedoch düster.
Kverndokks Musik wechselt zwischen zarten Liedern, kurzen Chorszenen und jazzigen Einlagen. Da es sich um eine Kooperation mit den Vereinigten Bühnen Wien handelt, spielt das auf Musicals spezialisierte Orchester der VBW unter der bewährten Leitung von Herbert Pichler.
In rasch wechselnden Szenen wird das Leben von Ruth Maier erzählt. Philipp Moschitz gibt sein Regiedebüt an der Kammeroper und begeistert mit frischen Einfällen und einer einfühlsamen Personenführung. Er hat aber auch großes Glück mit den beiden Hauptdarstellerinnen: Emily Mrosek, ausgebildete Opern- und Musicalsängerin, bezaubert als hoffnungsvolle, verträumte Ruth, die mit ihren inneren Dämonen kämpft. Mit zarter wie kraftvoller Stimme setzt sie der echten Ruth ein Denkmal. Die ebenfalls im Musicalgenre erfolgreiche Dorothea Maria Müller verkörpert Gunvor Hofmo als distanzierte, aber liebevolle Partnerin – sie überzeugt sowohl in der Sprech- als auch in der Gesangsrolle. Rund um diese beiden spielt ein kleines Ensemble alle weiteren Figuren: Mutter, Schwester, Soldaten, Arbeiter, Schüler.
Es ist fühlbar still im Zuschauerraum, als Ruth von den Schergen des Nationalsozialismus abgeholt wird. Zögernd brandet der Applaus auf – dann aber heftig.
Musikalische Leitung: Herbert Pichler • Choreografie: Sven Niemeyer • Bühne und Video: Matthias Engelmann • Kostüme: Claudio Pohle • Licht: Franz Tscheck • Mit: Emily Mrosek (Ruth Maier), Julia Bergen (Judith), Dorothea Maria Müller (Gunvor Hofmo), Maaike Schuurmans (Mutter u.a.), Alen Hodzovic (Hermann Thimig u.a.), Reinwald Kranner (Professor Williger u.a.) u.a. • Orchester der Vereinigten Bühnen Wien
Aufmacherfoto: Herwig Prammer