
„Rent“: versuchte Wiederbelebung eines einstigen Broadway-Hits in der deutschen Provinz
Falsches Stück am falschen Ort zur falschen Zeit – oder wie anders lässt es sich erklären, wenn bereits in der ersten Vorstellung nach der „Rent“-Premiere im Theater Lüneburg gerade einmal jeder zweite Platz im Saal besetzt ist? Dabei hat Jonathan Larsons Musical eigentlich das Zeug zum Bestseller – am Broadway lief es zwölf Jahre lang und spielte 280 Millionen Dollar ein –, hat der US-Amerikaner doch für sein Werk Puccinis Opernhit „La Bohème“ aufgegriffen und ins ebenso rockig-laute wie derbe New York des 20. Jahrhunderts übertragen. Erzählt wird die Geschichte einer Gruppe junger Bohemiens im East Village um den Filmemacher Mark Cohen (Lukas Witzel), der mit seinem Freund, dem Songwriter Roger Davis (Ruud van Overdijk), ein armseliges Leben in einer Mansarde fristet und auch dort schon seit einem Jahr mit der Mietzahlung im Rückstand ist. Zu allem Überfluss soll eben dieses Gebäude nun auch noch von ihrem einstigen Mitbewohner, dem neureichen Benjamin Coffin III. (Sascha Littig), in eine Luxusimmobilie umgewandelt werden. Die alten Bewohner will er vertreiben …
Auch musikalisch gibt es manchen Brückenschlag zu Puccini in den Rocknummern und Balladen – allein das Finale ertrinkt dann im typisch amerikanischen Kitsch-Bombast, als die vermeintlich todkranke Mimi (Anna Langner) plötzlich doch wieder aufersteht. Das Hauptproblem der Lüneburger Produktion indes ist, dass diese Erzählung aus den 90er Jahren wie aus einer fernen Zeit dünkt: Das Aids-Syndrom, an dem Dragqueen Angel Dumott Schunard (Soufjan Ibrahim) und der arbeitslose Uni-Dozent Tom Collins (Sjoerd Knol) erkrankt sind, ist heute medial längst kein Thema mehr; Immobilienhaie, soziale Gerechtigkeit und Künstlerarmut wirken in der Gesellschaft einer wohlsituierten Kleinstadt wie aus einer anderen Welt – und über winterliche Heizungssorgen klagt im dritten ukrainischen Kriegswinter hierzulande auch niemand mehr. Was die Geschichte einfach nicht sonderlich publikumswirksam macht, zumal „Rent“ eben auf Rock- und Rapklänge setzt – nicht gerade die Musik, die im ländlichen Niedersachsen die Menschen massenweise hinterm Ofen hervorlockt.
Selbst wenn die fünfköpfige Band die Songs mehr als nur ordentlich musiziert und ebenso eindringlich wie gefühlvoll aufzuspielen vermag, kommt die Inszenierung von Intendant Friedrich von Mansberg und Ruud van Overdijk weit weniger „flott“ daher. Das liegt keineswegs am lediglich auf karges Mauerwerk und das Bullaugenfenster der Mansarde reduzierten Bühnenbild Barbara Blochs, die sich mit schlichten, szenisch pragmatischen Requisiten begnügt und nicht nur mit den Telefonen und Kameras auf eine historische Gegenwart verweist. Nein, das Regieduo lässt trotz reichlich Raum viel zu wenig Bewegung auf der großen Bühne zu und vermag selbst so klassische Musicalthemen wie Liebe und Verlust nur bedingt herauszuarbeiten.
Dabei haben die Lüneburger für die acht tragenden Figuren sogar Gäste engagiert, wohlwissend um die künstlerischen Herausforderungen dieser Rollen. Allein: Auch diese Darstellerinnen und Darsteller bleiben überwiegend blass, kommen selten über schlichte Charakterzeichnungen hinaus – nicht zuletzt sängerisch, wo immer wieder harmonische Defizite hörbar werden. Und dass es obendrein an Textverständlichkeit hapert, lässt einem die Personen und ihre Gefühle auch nicht näherkommen. Positiv sticht lediglich Alexandra Nikolina als Maureen heraus, die durch darstellerische Hingabe und stimmliche Energie gleichermaßen zu überzeugen vermag. Das trifft auch auf das Ensemble der Akademie Junges Musiktheater zu, dessen Gesang wirklich mitreißt – schade nur, dass sie es nicht schaffen, die anderen Akteure auf der Bühne anzustecken …
Musikalische Leitung: Peter Foggitt • Regie: Friedrich von Mansberg und Ruud van Overdijk • Choreografie: Marta di Giulio • Ausstattung: Barbara Bloch • Video: M&B Filmproduktion GbR • Licht: Dirk Glowalla • Sounddesign: Claire Pape • Mit: Ruud van Overdijk (Roger Davis), Lukas Witzel (Mark Cohen), Anna Langner (Mimi Marquez), Alexandra Nikolina (Maureen Johnson), Terja Diava (Joanne Jefferson), Sjoerd Knol (Tom Collins), Soufjan Ibrahim (Angel Dumott Schunard), Sascha Littig (Benjamin Coffin III.) • Ensemble der Akademie Junges Musiktheater • Band der Lüneburger Symphoniker
Aufmacherfoto: Jochen Quast




