Frischer Wind für „A Chorus Line“
Am Ende sind die Protagonisten wieder ununterscheidbar geworden, aufgegangen in der perfekten Synchronität des Ensembles, um den Star zu unterstützen und ihm den glitzernden Rahmen zu setzen. Ihr Auftrag lautet: Unter gar keinen Umständen den Fokus auf sich ziehen. Die Idee des 1975 uraufgeführten Stückes „A Chorus Line“, das sämtliche bis dahin geltenden Aufführungsrekorde brach, besteht darin, Ensemblemitgliedern, die im Showbiz-Alltag für den Zuschauer eher weniger präsent bleiben, ins Zentrum einer dramatischen Handlung zu stellen und Menschen hinter der aufs Funktionieren gedrillten Show-Maschinerie zu zeigen.
Lange Zeit waren die Lizenzrechte mit umfangreichen Vorgaben vor allem zu Regie und Choreografie verbunden, sodass das legendäre Werk im deutschsprachigen Raum nur wenig präsent war. Nachdem das Stück nun aber für freie Inszenierungen verfügbar ist, zeigen die Bad Hersfelder Festspiele kurz nach dem Hamburger First Stage Theater die bereits zweite freie deutschsprachige Inszenierung, wofür inzwischen auch eine neue Übersetzung von Robin Kulisch zur Verfügung steht, die die zuletzt gültige Fassung von Michael Kunze abgelöst hat und nunmehr auch Begriffe wie „Internet“ kennt.
Der hierdurch möglich gewordene frische Wind tut dem Stück sehr gut. Das diesbezüglich sicherlich auffälligste Merkmal dieser Produktion sind vorproduzierte Videoeinspielungen von Eric Dunlap, die auf zwei großen LED-Videowänden an den Bühnenseiten präsentiert werden und etwa mit kunstvoll verwaschenen Bildern Sheilas Kindheitserinnerungen an ihren Ballettunterricht visualisieren. Zudem werden live aufgenommene Sequenzen eingespielt, die auch Zach zumindest per Videobild auf die Bühne holen, der größtenteils an einem Regiepult mitten im Auditorium agiert und dort für den Großteil des Publikums nicht zu sehen ist. Dialoge wie etwa der zwischen Cassie auf der Bühne und dem per Video zugeschalteten Zach erhalten hierdurch eine spannende Dynamik. Auch der für das Werk obligatorische Spiegel fehlt nicht. Bühnenbildnerin Karin Fritz hat sieben mobil einsetzbare Spiegelelemente entworfen, die in unterschiedlichen Anordnungen jeweils neue Bilder schaffen und auch auf ihrer Dachkonstruktion bespielbar sind, womit der Höhe der Spielstätte in der Stiftsruine sinnvoll Rechnung getragen wird.
Regie und Choreografie liegen bei dieser Produktion in einer Hand: Melissa King bringt die Show mit großer Stückexpertise und liebevoller Sorgfalt auf die Bühne. Ihre Inszenierung sucht nach möglichen sinnhaften Ergänzungen, ohne das Stück infrage zu stellen – das sieht man bei freien Inszenierungen leider oft anders. In der Personenregie stimmen die Details und tänzerisch versucht sie erst gar nicht, das Rad neu zu erfinden: So ist etwa auch die ikonische kreisförmige Formation der großen Finalnummer Bestandteil der Hersfelder Show. Die Ensembleleistung ist großartig: Sämtliche Darstellerinnen und Darsteller singen, tanzen und – das ist bei diesem Stück besonders wichtig – spielen fabelhaft. Arne Stephan gibt einen an der Oberfläche pragmatischen Zach, dessen hartherzige Maske gegenüber Cassie jedoch nur bedingt resistent ist. In deren großer und mächtiger Solonummer überzeugt Emma Kate Nelson mit toller Stimme und exaktem Tanz. Hervorzuheben ist auch die schauspielerisch eindringliche und gesanglich äußerst nuancierte Leistung von Kevin Reichmann, dem als Paul der sicherlich dramatischste Moment der Show gehört.
Beim begeisterten Schlussapplaus bedankt sich das Publikum am meisten bei Christoph Wohlleben, seit jeher ein Garant für die musikalische Qualität der Hersfelder Musical-Produktionen, dem es gelingt, die Songs trotz ihres Alters lebendig, frisch und voller mitreißender Energie erklingen zu lassen. Ein Juwel des Musical-Katalogs wird zu neuem strahlendem Bühnenleben erweckt.
Musikalische Leitung: Christoph Wohlleben • Regie und Choreografie: Melissa King • Bühne: Karin Fritz • Video: Eric Dunlap • Kostüme: Conny Lüders • Sounddesign: Joerg Gruensfelder • Licht: Pia Virolainen und Svein Selvik • Mit: Arne Stephan (Zach), Alan Byland (Larry), Pascal Cremer (Bobby), Emma Kate Nelson (Cassie), Kelly Panier (Maggie), Kevin Reichmann (Paul), Olivia Grassner (Sheila), Clara Mills-Karzel (Val) u.a. • Orchester der Bad Hersfelder Festspiele GbR
Aufmacherfoto: BHF/Johannes Schembs