
Eine neue Non-Replica-Produktion für „Wicked“
Der erste Kinofilm spielte im letzten Jahr über 700 Millionen US-Doller ein und gilt als erfolgreichste Broadway-Musical-Verfilmung aller Zeiten. Die Bühnenfassung selbst toppt das noch um Welten, seit der Uraufführung 2003 wurden bis heute über 65 Millionen Tickets (!) gelöst. Spricht man über die Theaterphänomene des 21. Jahrhunderts, kommt man an „Wicked“ nicht vorbei. Jetzt, auf dem Höhepunkt des Hypes kurz vor Start des zweiten Films, ist das Stück im deutschsprachigen Raum wieder live zu erleben: im beschaulichen Badener Stadttheater.
Ein Coup des neuen Künstlerischen Leiters Andreas Gergen. Auf Empfehlung des persönlich zur Premiere angereisten Komponisten Stephen Schwartz hat er die Rechte für eine eigene Non-Replica-Inszenierung bekommen – die weltweit erste für eine Bühne dieser Größenordnung. Dass es sich in unmittelbarer Nähe zur Musical-Hauptstadt Wien auch gleich noch um die österreichische Erstaufführung des Mega-Erfolgs handelt, macht den Auftakt der neuen Intendanz rein wirtschaftlich zur sicheren Bank: Sämtliche Termine inklusive Zusatzvorstellungen waren schon vor Start der Spielserie restlos ausverkauft, eine Wiederaufnahme in der Folgespielzeit ist reine Formsache.
Und in kreativer Hinsicht? Macht der selbst inszenierende Gergen alles richtig, ohne sonderlich zu überraschen. Denn wer „Wicked“ kennt, weiß, dass es viel mehr als nur ein oberflächlicher „Blockbuster“ ist – und genau diese inhaltliche Tiefe arbeitet die Regie abseits von technischem Long-Run-Bombast zielsicher heraus. „Tiere sind nicht der Rede wert!“, werden mundtot gemacht, ausgegrenzt, gequält, gebrochen, ausgelöscht – Parallelen zu den autoritär-diktatorischen Systemen vergangener und heutiger Zeiten: alles andere als zufällig. Die Badener Produktion im Vergleich zu früheren Pendants von Stage Entertainment & Co. als Kammerspiel zu bezeichnen, würde ihr nicht gerecht. Aber gerade die Reduktion auf den bitteren Kern der Geschichte macht diesen Abend zu einem Volltreffer, nachdem er sich erst einmal warmgelaufen hat. Momme Hinrichs (Bühne) und Claudio Pohle (Kostüme) zeigen das inmitten kalter Backsteinwände, schlichter Projektionen und gleichgeschaltet maskierter Munchkins im 1930er-Jahre-Look, die in Francesc Abós’ körperbetonten Choreos mit völkischen Zwischentönen eine Hetzjagd auf das Feindbild „Die Böse Hexe des Westens“ starten.
Die ist bei Laura Panzeri, Elphabas Gesangsstimme aus der italienischen Kino-Synchro, in allerbesten Händen. Panzeri bringt alles mit, was man sich für diese Rolle nur wünschen kann: satte, volltönende Tiefen mit Profil, sensible Verletzlichkeit und standhaftes Aufbegehren, Gänsehaut und schier unerschöpfliche Stimmreserven – Weltklasse! Vanessa Heinz als Glinda kann da trotz lupenreinem Gesang nicht ganz mithalten, was an der Königsdisziplin Komik liegt: Die geltungssüchtigen Farbtupfer der quietschigen It-Girl-Karikatur wirken bei ihr zu aufgesetzt, die Plattitüden der Rolle überdecken Glindas charakterliche Reifung, die schon früher mit kleinen Blicken und Gesten durchscheinen müsste. Dieses Problem teilt sie mit Timotheus Hollweg, dessen Fiyero unter seinem etwas steifen Schauspiel leidet.
Anders sieht es beim Rest des Ensembles aus: Mark Seibert als Zauberer von Oz ist ein Meister der Instrumentalisierung mit aalglatter Politiker-Fassade, Maya Hakvoort als Madame Akaber eine widerlich linientreue Propagandistin, Jens Emmert der unglückliche Munchkin (und spätere Zinnmann) Moq und Beppo Binder Elphabas herzzerreißend leidender Mentor Dr. Dillamond, dessen Schicksal sie endgültig in den Widerstand treibt. Unbedingt hervorzuheben: die erst 23-jährige Anna Rosa Döller aus dem neu ins Leben gerufenen „Young Artists“-Ensemble, deren klassisch angehauchte Nessarose mit maßloser Verbitterung den Weg zur „Bösen Hexe des Ostens“ beschreitet.
Den Boden für all das bereitet das sehr versierte Orchester der Bühne Baden unter Leitung von Sebastian De Domenico – ein qualitatives Ausrufezeichen angesichts der aktuellen Pläne, diesen auf das musikalische Unterhaltungstheater spezialisierten Klangkörper in zwei Jahren abzuwickeln …
Musikalische Leitung: Sebastian De Domenico • Regie: Andreas Gergen • Choreografie: Francesc Abós • Bühne: Momme Hinrichs • Kostüme: Claudio Pohle • Maske: Edu von Gomes • Licht: Stephanie Affleck • Sounddesign: Florian Carau • Mit: Laura Panzeri (Elphaba), Vanessa Heinz (Glinda), Timotheus Hollweg (Fiyero), Mark Seibert (Der Zauberer), Maya Hakvoort (Madame Akaber), Beppo Binder (Dr. Dillamond), Anna Rosa Döller (Nessarose), Jens Emmert (Moq) • Orchester, Chor, Tanzensemble und Young Artists der Bühne Baden
Aufmacherfoto: Lalo Jodlbauer