Ein Abend, der gesellschaftliche Ketten sprengt
Der unstillbare Wunsch nach Freiheit und Autonomie – oft wird er erstickt in einem engen Korsett gesellschaftlicher Zwänge, Traditionen und Erwartungen. Am Berliner Maxim Gorki Theater wird dieses altbekannte Sujet in der frisch uraufgeführten Musikcollage „Ciao“ mit neuen Perspektiven beleuchtet. Die vier Protagonisten – Emre Aksızoğlu, Knut Berger, Jonas Dassler und Taner Şahintürk – fungieren zugleich als Autorenteam, Komponisten, Texter und Arrangeure. Sie bieten nicht nur beste Unterhaltung, sondern dekonstruieren das Thema der Selbstbestimmung genüsslich und sukzessive. Das Ergebnis ist eine fesselnde Mischung aus Entertainment und Tiefgang, die das Premierenpublikum am Ende kollektiv von den Sitzen reißt.
Boybands sind bekannt für eingängige Hits, Groupie-Kult und glatte Fassaden. Doch allzu oft bröckelt es hinter dem perfekten Image und auch bei der Band „Ciao“ kracht es fernab der Kulissen gewaltig. Schon nach dem ersten Song des Vierergespanns, das die Gorki-Bühne bei Nebel und Scheinwerfer-Gegenlicht zum Rocktempel mutieren lässt (Paul Bauer), bricht Streit aus und das Quartett beginnt einen hitzigen Backstage-Disput. Einigkeit besteht nur darüber, dass man sich uneinig ist. In der schrillen Kleidung mit hautengen Leggins stecken offenbar vier testosterongesteuerte Männer-Egos, denen ein Moment des Innehaltens guttäte. Entsprechend folgt eine ausgiebige Selbstfindungsphase, geprägt von eklektizistischen Zäsuren: Von einem selbstironischen Theaterchor, frechem Stand-up, plötzlichem Slapstick bis hin zu nachdenklichen Monologen reflektieren die vier die zentrale Frage, was sie eigentlich zu dem macht, wer sie sind – auch weit jenseits des Produkts, das sie verkörpern.
Schauspielerisch begeistert das Vierergespann durchweg: Emre Aksızoğlu beeindruckt mit stimmlicher und mimischer Wandlungsfähigkeit, von ironischer Selbstbetrachtung bis hin zu kompromissloser Bestimmtheit. Knut Berger überzeugt mit facettenreicher Darstellung und fängt mit subtilen Blicken sämtliche Nuancen ein. Jonas Dassler begeistert mit intensiver Präsenz, die stets den richtigen Akzent trifft. Und Taner Şahintürk definiert theatrale Superlative neu und schafft eine meisterhafte Mischung aus fein abgestimmtem Humor und dramatischer Intensität. Musikalisch rockt es, besonders diverse Eigenkompositionen reißen mit. Maryam Zarees Unterstützung in ihrer ausgeklügelten Regiearbeit stimmt die vier Protagonisten bestens aufeinander ab und trägt somit wesentlich zum Gelingen bei. Das gibt den Inhalten des Abends Raum: Etwa die Reflexion der gesellschaftlichen Verwertungsindustrie, rassistischer Stereotypen, des Männlichkeitsbildes, der eigenen Vergangenheit und insbesondere der familiär-mütterlichen Prägung der Protagonisten.
Ein besonderer dramaturgischer Kniff gelingt, indem der erste Moment des Stücks zwei Menschen gehört, die eigentlich hinter bzw. vor der Bühne agieren: Filip Piotr Rutkowski (Regieassistent und künstlerische Mitarbeit) richtet in einer einfühlsamen Ansprache und Musikeinlage mit Gioia Magelli (Soufflage) das Scheinwerferlicht auf all jene, die das Theatererlebnis ermöglichen und für das Publikum doch im Verborgenen bleiben. Das sind etwa die Dramaturgin (Valerie Göhring), die Übertitelung (Lotte Thierbach) oder auch der Abenddienst. Und hierin liegt mehr als bloß eine nette Geste, denn bereits im Kleinen steckt die Botschaft des Abends: Einzelne Egos mögen im Theater prägend sein, doch Großes kann nur gelingen, wenn viele gemeinsam wirken. „Ciao“ ist auch eine Hommage an alle, die im Hintergrund bleiben und doch das Erlebnis prägen. Das ist Theater, das bleibt, das bewegt, das begeistert.
Musikalische Mitarbeit: Julian Knoth • Künstlerische Mitarbeit: Filip Piotr Rutkowski • Bühne: Paul Bauer • Co-Autor Stand-up: İlkan Ateşöz
Aufmacherfoto: Ute Langkafel MAIFOTO