
Kammermusical „Davor/Danach“ als deutsche Erstaufführung in Berlin
Es ist wirklich verflixt: manchmal knirscht es in der Liebe nach anfänglicher Glut binnen kurzer Zeit. Gründe lassen sich turmhoch addieren, am Ende steht meist die Trennung. Ami und Ben können davon ein Lied, besser ein ganzes Musical singen. Die beiden verloren sich irgendwann in zermürbenden Konflikten. Sie war immer zu nah an ihrem Vater, er ziemlich verpeilt. Plötzlich treffen sie erneut aufeinander. Bei Ami regt sich sofort die verblichene Zuneigung, ihr ehemaliger Freund erinnert sich aber seit einem Autounfall an gar nichts mehr. Gibt es da überhaupt eine Chance aufs Happy-End? „Davor/Danach“ gibt die Antwort nach vielen Schleifen erst ganz am Schluss. Das Stück aus der Feder von Stuart Matthew Price (Musik/Liedtexte) sowie Timothy Knapman (Buch/Liedtexte) blättert die recht ungewöhnliche Love-Story wie eine Soap Opera auf. Nach der Uraufführung in Tokio (2014) erlebt es in der Berliner WABE erstmals eine deutsche Produktion, ausgeführt von OFFstage-Germany, ein Verein, der kleine Formate mit professionellen Besetzungen realisiert.
Ganz zufällig sehen sich die beiden Protagonisten unter einem Baum wieder. Daraus entspinnt sich ein durchaus interessanter Plot, der Vergangenheit und Gegenwart koppelt: „Davor/Danach“, der Titel sagt es plakativ. Ami lässt die Bilder unvermittelt aufleben, ihre alte Zuneigung entbrennt lichterloh. Bei Ben liegt Gestern im Dunkel, es wäre für ihn eine völlig neue Liebe. Ungleiche Startbedingungen, aus denen logischerweise emotionale Stolpersteine resultieren. Sidonie Smith und Dennis Weissert machen das großartig, zeigen authentisch diese Mischung aus Begierde, Zögern, Retrospektive und möglichem Futur. Es handelt sich bei ihnen um ausgewiesene Experten ihres Fachs mit Stationen von Wien über St. Gallen und Köln bis zur Komischen Oper Berlin. In der WABE verleihen sie dem Kammermusical einige Substanz, spielen mit wechselndem Tempo und Stimmungen.
Regisseur und Choreograf Michael Heller assistiert beiden mit Kennerblick, kitzelt Leidenschaft aus ihren Aktionen, balanciert zwischen wallender Libido und tiefem Zweifel. Die oft lyrischen Songs beschreiben Achterbahnen, markieren Reminiszenzen und Aufbrüche, pulsierende Lust und dunkel timbrierten Balladenton. Lidia Kalendareva hält die Zügel straff und inspiriert ihre Band mit Klavier, Gitarre und Cello zu eindringlichen Klangmomenten mit persönlichen Noten. Die gute Übersetzung von Robert G. Neumayr fällt flüssig aus, plumpst nie in gedrechselte Dialoge oder holperige Liedtexte.
Trotzdem hat das Stück auch Schwächen. Die Übergänge zwischen Rückblenden und Gegenwart verwaschen, es fehlen dramaturgische Zuspitzungen, Spannungsbögen bauen sich eher selten auf. Gestrafft und ohne Pause würde die Geschichte vermutlich stringenter wirken. „Davor/Danach“ erinnert gelegentlich an „Next to Normal“ oder die Musicals von Jason Robert Brown und steht einem Stephen Sondheim deutlich näher als Andrew Lloyd Webber. Das sparsame, abstrakte Bühnenbild (Michael Heller/Moritz Piefke) fokussiert im zweiten Teil die Kunstwerke, mit denen der wenig ambitionierte Ben in Amis Galerie ausstellen soll. Wie ein Puzzle füllen sich dabei Gedächnislücken, die dem jungen Mann seine frühere Identität zumindest teilweise zurückgeben. Das hat durchaus anrührende Momente, schafft eine gewisse Intensität.
Sindonie Smith als lebenspralle, stets gehetzte Ami und Dennis Weisserts subdominanter Ben holen aus der etwas schütteren Vorlage, was möglich ist. Sie bemühen sich wacker, den Figuren ohne billige Effekte schärfere Konturen zu verleihen, Michael Heller unterstützt nach Kräften. Eine tolle Cast, die „Davor/Danach“ trägt und Schwächen kaschiert. Dennoch: einen großen Wurf gab es hier nicht zu bestaunen, das Musical dürfte insofern kaum auf Erfolgskurs in deutschen Landen steuern. Das Publikum belohnte die beiden Akteure und das Kreativteam mit prasselndem Applaus.
Musikalische Leitung: Lidia Kalendareva • Regie: Michael Heller • Bühnenbild: Michael Heller/Moritz Piefke • Lichtdesign: Michael Heller/Moritz Rösner/Norbert Zühlke • Sounddesign: Peer Offereins • Mit: Sidonie Smith (Ami), Dennis Weissert (Ben)
Aufmacherfoto: OFFstage Germany