Das Musical „Irena“ erinnert an eine polnische Heldin
Als 1984 an der damaligen Westberliner Volksbühne Joshua Sobols Musiktheater „Ghetto“ angekündigt wurde, gab es große Irritationen. Das Leiden der jüdischen Bevölkerung im Wilnaer Ghetto, aufbereitet als tragische Show mit Elementen aus dem Entertainment, rührte an einem Tabu. 40 Jahre später fühlt sich kaum jemand provoziert von künstlerischen Auseinandersetzungen zu diesem Thema, ob im Film oder auf der Opernbühne. Prominentestes Beispiel der jüngsten Zeit: „Die Passagierin“ nach Erinnerungen der Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz, vertont von Mieczysław Weinberg. In seiner Komplexität ist diese Oper jedoch kaum geeignet, ein größeres Publikum anzusprechen. Das könnte eher dem Musical „Irena“ gelingen.
Es erinnert an die polnische Sozialarbeiterin Irena Sendler, die – geprägt von ihrem aufrechten Vater und seit ihrem Studium politisch aktiv – hunderte von jüdischen Kindern aus dem Warschauer Ghetto vor den Nazis rettet und sie mit gefälschten Geburtsurkunden in Pflegefamilien unterbringt. 1965 erhält Sendler in Yad Vashem den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“. Posthum gewürdigt wird sie mit dem Dokumentarfilm „Im Namen ihrer Mütter“ von Mary Skinner und Piotr Piwowarczyk (2011), der nach ihrem Tod 2008 erscheint. Er ist Grundlage für das vom selben Autorenteam konzipierte Musical „Irena“ mit der kongenialen Musik von Włodek Pawlik, eine jazzig angehauchte Komposition mit Klezmer-Einlagen und emotionalen Solosongs.
„Irena“ wird im August 2022 im Teatr Muzyczny Poznań uraufgeführt, zum 80. Jahrestag der Deportation von 200 Waisenkindern und des sie freiwillig begleitenden Arztes Janusz Korczak – im Stück in einer erschütternden Sequenz angedeutet. Die Produktion gastierte in Warschau und jetzt, in polnischer Sprache mit deutschen Untertiteln, im ausverkauften Berliner Admiralspalast. Das Musical beginnt in der Gegenwart. Irena, im Rollstuhl sitzend, erhält überraschend Besuch von Itzek, einem ihrer ehemaligen Schützlinge. Dabei kommen Erinnerungen hoch. Die ukrainische Schauspielerin Oksana Hamerska verkörpert die Titelfigur glaubwürdig als charakterfeste Frau, die sich von niemandem von ihrer Mission abhalten lässt.
In Rückblenden scheinen Episoden aus ihrem Leben auf: die Arbeit im Ghetto, die Begegnung mit Pani Grinberg, Itzeks Mutter (äußerst stimmstark Anna Lasota im Eröffnungsduett „Hoffnung“), die Liebesbeziehung zu ihrem Mann Adam (mit viel Gefühl: Radosław Elis), der ihr vorwirft, immer nur für andere dazu sein, die Verhaftung durch die Gestapo und nach der Befreiung die Verdächtigung im kommunistischen Polen, eine Verräterin zu sein. Letztendlich das Treffen mit Itzek, der sich, nun amerikanisiert, William Green nennt (ergreifend: Wiesław Paprzycki) und seine Mutter noch im Nachhinein anklagt, ihn weggegeben zu haben. Irena bittet ihn, zu verzeihen.
Das ist einer der zu Herzen gehenden Momente in der Inszenierung von Brian Kite. Sie kommt ohne plakative Effekte aus, konzentriert sich auf subtile Personenführung, die mit den dezenten Choreografien von Dana Solimando trefflich korrespondiert. Wie auch mit dem Bühnenbild von Damian Styrna: ein leerer Einheitsraum, der durch Beleuchtungswechsel und wenige Versatzstücke unterschiedliche Handlungsorte imaginiert, außerdem durch Projektionen von Bildern, Ereignissen, Straßennamen und Jahreszahlen in Kinderschrift. Nach der Vorstellung betritt Elżbieta Ficowska die Bühne. Sie ist eine der von Irena Sendler Geretteten, damals sechs Monate alt: „Ohne sie würde ich heute nicht hier vor Ihnen stehen“, sagt sie. Ein Appell an das Gute im Menschen macht dieses Musical zu einem Lichtblick in düsteren Zeiten.
Musikalische Leitung: Łukasz Pawlik • Choreografie: Dana Solimando • Bühne: Damian Styrna • Kostüme: Anna Chadaj • Licht: Tadeusz Trylski • Projektionen: Eliasz und Damian Styrna • Sounddesign: Tomasz Zajma • Gesangliche Leitung: Katarzyna Rościńska • Mit: Oksana Hamerska (Irena), Radosław Elis (Adam), Anna Lasota (Pani Grinberg), Wiesław Paprzycki (William Green), Urszula Laudańska (Magda), Katarzyna Tapek (Jaga), Łukasz Brzeziński (Jan), Bartosz Sołtysiak (Jurek) • Orchester des Teatr Muzyczny w Poznaniu
Aufmacherfoto: Dawid Stube