
„Scherben Kinder“ verlegt Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ in unsere zersplitterte Gegenwart
„Für ein Deutschland, auf das wir wieder stolz sein können“ – das beschmierte Wahlplakat des neuen Kanzlers thront über der Szene wie eine Drohung im Sonntagsanzug. Es ist die bitterste Fußnote zu Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“, das im Projekt „Scherben Kinder“ an der Universität der Künste Berlin nicht als Klassiker, sondern als Störgeräusch der Gegenwart inszeniert wird. Regisseur Mathias Noack und Autor Fabian Hartje interessieren weder der wilhelminische Sittenknast noch die ewige Pose pubertärer Rebellion. Sie stellen eine Generation ins Licht, die längst weiß: Freiheit ist kein Versprechen mehr, sondern eine verkaufsstarke, politische Worthülse. Zugleich ist „Scherben Kinder“ eine künstlerische Visitenkarte und Prüfstein für die Studierenden der UdK aus den Bereichen Musical/Show, Szenisches Schreiben sowie Bühnen- und Kostümbild – eine Plattform, um eigene Handschriften zu erproben.
Der Abend ist weniger Erzählung als Milieustudie: eine Collage zersplitterter Identitäten in einer Welt, die alles verfügbar macht, aber wenig Halt bietet. Die Figuren kreisen um diese Bruchstellen: Wendla (Mara Liede Gallego), Melchior (Lukas Koch), Moritz (Markus Spagl), Ilse (Lara Kareen), Thea (Anastasia Dragoi), Hänschen (Noel Becker), Ernst (Lennart Petersen), Ina (Josephina Mackensen) und Martha (Victoria Angerer) stehen exemplarisch für die Suche nach Resonanz, Zugehörigkeit und Selbstvergewisserung. Das Ensemble überzeugt dabei durchweg mit feinem Gespür für die inneren Spannungen ihrer Rollen – zerrissen zwischen Selbstbehauptung und Selbstverlust, zwischen dem Wunsch nach Aufbruch und der Ohnmacht angesichts einer Welt, die wenig Antworten gibt.
Regisseur Mathias Noack verankert das Geschehen präzise im Heute und eröffnet den Zugang zu seinen Charakteren über ihre Zerbrechlichkeiten. Die Bühne (Martin Gonschorek und Jan Schnase) liefert das passende Bild: Beton, Bushaltestelle, Rollrasen – ein Niemandsland des Wartens, halbseitig umrahmt von drei Publikumstribünen. Melissa Kings Choreografien füllen diesen Raum zwischen reduzierter Spannung und plötzlichen Ausbrüchen, Cora Geßmanns Kostüme übersetzen Rebellion und Verletzlichkeit in prägnante Bilder. Doch mit der Zeit verliert sich die erzählerische Schärfe: Szenen kreisen, Nummern verdichten, ohne sich weiterzuentwickeln. Erst ein finaler Ton-Einspieler bringt die bittere Bilanz: Träume zerschellen, Selbstbilder scheitern an der Realität.
Das Ensemble trägt den Abend. Jede Darstellerin, jeder Darsteller setzt Akzente, macht die Songs zu Stimmungs-Seismografen. Unter der musikalischen Leitung von Damian Omansen verbindet das Jukebox-Erzählstück Musical- und Pop-Nummern als Klanggerüst für Selbstbefragung und Selbstbehauptung. Herausragend: Josephina Mackensen mit „Wenn ihr den Raum verlasst“, Noel Becker und Lennart Petersen mit „Spür mich“ und Victoria Angerer mit „Hörst du mein Herz“.
„Scherben Kinder“ ist bei all dem mehr als ein ästhetisch klug gebauter Abend. Die Produktionsbedingungen – Kürzungen und Sparzwang – verleihen dem Projekt eine besondere Dringlichkeit im Kampf um Sichtbarkeit innerhalb eines Systems, das Kultur zunehmend zur Nebensache erklärt. Dass die Gesellschaft hier nur als Folie auftaucht, im Wahlplakat und Vorstadtbeton, ist kein Zufall, sondern ein kluger Kniff: Aufbegehren wird zur Attitüde, weil echte Revolte längst keinen Platz mehr hat, haben soll. Was bleibt, ist das geduldige Ringen um das eigene Bild. „Wir waren einmal …“, raunt es da aus dem politischen Diskurs. „Scherben Kinder“ antwortet hierauf nicht, aber macht eine Frage spürbar: Wer sind wir jetzt?
Musikalische Leitung: Damian Omansen • Choreografie: Melissa King • Bühne: Martin Gonschorek und Jan Schnase • Kostüme: Cora Geßmann • Licht: Miriam Damm • Sounddesign: Hadi Abilmona und Karina Kemere • Mit: Mara Liede Gallego (Wendla), Victoria Angerer (Martha), Anastasia Dragoi (Thea), Lara Kareen (Ilse), Josephina Mackensen (Ina), Lukas Koch (Melchior), Markus Spagl (Moritz), Lennart Petersen (Ernst), Noel Becker (Hänschen)
Aufmacherfoto: Daniel Nartschick