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1 Kleists Torbogen Schlussbild Monika Freinberger | MUSICAL TODAY

Schroffenstein: In Grund und Boden

Angst vor dem Absturz

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glanz&krawall (Heimathafen Neukölln)
von
Sarah Taylor Ellis (Musik)
Dennis Depta und Marielle Sterra (Konzept)
Regie
Marielle Sterra
Uraufführung
2025

Kleists „Schroffenstein“ als Punk-Oper

Sprachwuchtig hangelte sich Heinrich von Kleist (1777-1811) durch komplexe Themen. Kernaussage war die Suche nach idealem Glück, das sich aber stets als trügerisch entpuppt. Aus den Texten sprach Pessimismus, gern intellektuell durchwoben. Der Autor wähnte Menschen als instinktgesteuert, gewalttätig, selbstsüchtig. „Familie Schroffenstein“ nannte er sein erstes Drama. Beim Publikum stieß es auf wenig Gegenliebe, obwohl es Shakespeares „Romeo und Julia“ im geistigen Gepäck hatte. Nun setzte die Berliner Theatergruppe „glanz&krawall“ die sperrige Vorlage auf die Agenda und versucht sie in die Gegenwart zu retten, musikalisch aufgemotzt durch Sarah Taylor Ellis. Im Berliner Heimathafen Neukölln landen sie einen stattlichen Erfolg.

In der Neuauflage „Schroffenstein: In Grund und Boden“ geht es tatsächlich um Besitz, dessen Mehrung und Verteidigung, vor allem jedoch ums Erbe. Im Zentrum steht, wie bei Kleist, eine abgrundtief zerstrittene und wohlhabende Familie, die alles duldet, nur keine Aussöhnung. Wehe, wenn da unbekümmerte Sprösslinge mal ausscheren, sich gar verlieben und die gerissenen Bande wieder kitten wollen. Ein absolutes No-Go mit tödlichen Konsequenzen, zumal die martialischen Oberhäupter der gespaltenen Sippe auch noch blanke Angst vor dem sozialen Abstieg umtreibt. Es kracht entsprechend im sozialen Gebälk. Das funktioniert am besten im Punk-Format, meinte das Kreativteam und siedelt genau dort seine Adaption an.

Ambitioniert legen Dennis Depta und Marielle Sterra von „glanz&krawall“ das Kleist-Gerüst aus und ihr Konzept an. Dazu weiten sie den Rahmen, schubsen Klimawandel, Neo-Feudalismus und Kapitalismuskritik in die Dialoge, mischen den toxischen Cocktail mit Satire und Realismus. Tatsächlich kleben einige Klischees an dieser „Schroffenstein“-Fassung; Brechungen sind nötig, sie sorgen für rasche Wechsel und dramaturgische Kniffe. Neben echten Figuren übernehmen Puppen das Regiment (formidabel: das Helmi Puppentheater), verdichten, entschlacken manchmal allzu überladende Botschaften und gönnen auch heitere Momente.

Das schrille Musical beginnt fast interaktiv. Die Zuschauer schreiten über Kunstrasen, der gerade ausgerollt wird. Die entstehende Landschaft suggeriert eine artifizielle Idylle. Später mischt noch ein Motivationscoach mit. Das Bühnenbild von Claus Engel und Francisca Villela schafft eine atmosphärische Arena für die Verwerfungen und Bedrohlichkeiten. Die knalligen Kostüme von Mayan Tuulia Frank folgen konsequent der Punk-Optik, überziehen ironisch und bleiben doch im Schick der Zeit. Als Regisseurin laviert Marielle Sterra geschickt zwischen den Ebenen und drückt beim Tempo oft auf die Tube. Monika Freinberger, Cora Peter Frost, Pia Hüttl, Kat Papachristou, Rebecca Thoß, Marieke Wikesjo, Felix Witzlau, Emir Tebatebai und Sarah Taylor Ellis agieren mit Verve und Präzision – als Spieler, Musiker, Puppenführende. Ihnen gelingen interessante szenische Effekte und ein meist gut getimter Spannungsbogen, den die arrivierte Komponistin Sarah Taylor Ellis als musikalische Leiterin und Mitakteurin energetisch mächtig ankurbelt. Ihr robust rockiger, eintrommelnder, insgesamt sehr überzeugender Sound im Punk-Zuschnitt kommt beinahe arienhaft daher, eher als Oper denn als Musical. Manchmal purzeln Kleists geschliffene Verse vermutlich bewusst aus dem Takt.

Ein Rastloser war der Künstler, stilistisch nirgends richtig einzuordnen, zugleich Vorbote der literarischen Moderne und Wegbereiter des faschistischen Führerkults. Das macht ihn angreifbar und ebenfalls aktuell. Die Spuren der originalen Schroffenstein-Familie schlängeln sich glaubhaft in die Gegenwart und die rundum bemerkenswerte, gut geerdete Berliner Produktion offenbart den opulenten Gehalt. Trotzdem bleibt die Frage, wer letztlich Adressat dieser Adaption ist. Die politische Klasse vielleicht oder die Mehrfachmillionäre in ihren ökomischen Blasen? Oder beschwört das Stück dem Spätkapitalismus eine düster umwölkte Götterdämmerung? Unterhaltend ist die schaurige Saga allemal – das Publikum reagiert mit klarer Zustimmung.


Musikalische Leitung: Sarah Taylor Ellis • Choreografie: Berit Jentzsch • Bühne: Claus Engel und Francisca Villela • Kostüme: Mayan Tuulia Frank • Video: Peta Schickart • Mit: Sarah Taylor Ellis, Monika Freinberger, Cora Peter Frost, Pia Hüttl, Kat Papachristou, Emir Tebatebai (Helmi Puppentheater), Rebecca Thoß, Marieke Wikesjo, Felix Witzlau

Aufmacherfoto: Monika Freinberger

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