
Zwischen Macht und Moral: „Tanatas Teeschale“ als düsteres Gangster-Musical
Ferdinand von Schirach kennt aus seiner Tätigkeit als Strafverteidiger so manche Abgründe, die selbst hartgesottene Zeitgenossen das Schaudern lehren können. Elf bemerkenswerte Fälle aus seiner Laufbahn hielt er im 2009 erschienenen Kurzgeschichtenband „Verbrechen“ in literarisch verfremdeter Form fest. Nach TV-Adaptionen schafft es nun die erste dieser Erzählungen auf die Musicalbühne der Neuköllner Oper in Berlin: „Tanatas Teeschale“, die Fallstudie dreier draufgängerischer Kleinkrimineller, denen ein schwerer Diebstahl in Berlin-Dahlem gehörig über den Kopf wächst. Die Inszenierung übersetzt Schirachs nüchternen Erzählstil in eine atmosphärisch dichte, musikalisch vielseitige Darstellung der Berliner Unterwelt – zwischen Krimi, Komödie und Moritat. Damit setzt das Kreativteam um Fabian Gerhardt (Regie, Buch und Gesangstexte), Kamil „Demian“ (Buch und Raptext) und Wolfgang Böhmer (Musik) die Produktion in jenem Bezirk um, der zugleich Haupthandlungsort und Heimat der Protagonisten ist.
Özcan (Azaria Dowuona-Hammond), Samir (Salar Jafari) und Manólis (Nicolas Sidiropulos) träumen vom großen Geld. Doch die Aufstiegschancen im Berliner Brennpunktbezirk sind arg limitiert – Reichtum scheint lediglich jenseits legaler Pfade realisierbar. Obgleich Samirs Freundin Linda (Linda Belinda Podszus) strikt gegen die dunklen Geschäfte ihres Partners ist, wagen sich die drei nach einem fragwürdigen Tipp ins Villenviertel Dahlem. Dort soll ihnen ein vermeintlich einfacher Einbruch zu einer neuen Existenz verhelfen. Doch die Freude währt nur kurz – längst hat die Unterwelt Wind von dem Coup bekommen. Allen voran meldet die brutal-grobschlächtige Neuköllner Milieugröße Pocol (Armin Wahedi) Ansprüche auf die Beute an, flankiert von seinem abgehalfterten, nostalgischen Westberliner Wegbegleiter Wagner (Oliver Urbanski). Doch erst als der beklaute Tanata selbst auf den Plan tritt, müssen auch Wagner und Pocol erkennen, dass sie in Wahrheit lediglich kleine Lichter der kriminellen Szene sind, bevor sie von der Schattenwelt selbst verschlungen werden. Verängstigt versuchen Özcan, Samir und Manólis daraufhin zu retten, was zu retten ist – allen voran sich selbst.
Regisseur Fabian Gerhardt entfaltet die Handlung langsam, sodass sich der Plot erst allmählich erschließt. Bis dahin haben die Protagonisten in düsterer Lederkluft wie auch ihre Gegenspieler in expressiver Playboy-Kleidung (Kostüme: Sophie Peters) einiges an Wegstrecke auf der ganz in Samtrot gehaltenen Bühne von Michael Graessner zurückzulegen, die mal Nobelvilla, dann Casino oder auch das Fegefeuer assoziiert. Die Inszenierung setzt auf rasante Szenenwechsel und surreale Brüche, die das Chaos der Figuren spiegeln. Straßenjargon trifft auf pseudo-philosophische Reflexionen, während Böhmers eklektische Partitur von Jazz und Rap bis zu Schlager und Rock reicht. Besonders eindrucksvoll: der Song „Gewalt ist Ordnung“, in dem Pocol sich als Hobbes’scher Leviathan inszeniert, während Wagner sich mit Schlagermelodien in vermeintlich goldene Zeiten zurückträumt.
Dass dieses Konzept aufgeht, liegt allen voran auch am spielfreudigen, bestens aufgelegten Ensemble: Azaria Dowuona-Hammond, Salar Jafari, Nicolas Sidiropulos und Linda Belinda Podszus eignen sich die Rollen der Protagonisten mit viel Empathie zu den Charakteren an, was ihnen selbst in übersteigerten Momenten stets eine Nahbarkeit verleiht und sie vor einem Abrutschen ins Klischeehafte bewahrt. Währenddessen bewegen sich Armin Wahedi (als Pocol und Tanata) sowie Oliver Urbanski (als Wagner und Nowak) mit süffisanter Bosheit zwischen Bedrohung und schwarzem Humor, wobei das bestens aufspielende Orchester unter Markus Syperek für den treibenden musikalischen Puls sorgt.
Der Neuköllner Oper gelingt mit „Verbrechen – Tanatas Teeschale“ eine fesselnde Milieustudie, die zwischen Krimi, Komödie und Gangsterballade oszilliert. Nach knapp zwei Stunden Spielzeit zeigte sich das Premierenpublikum begeistert – ein düster-unterhaltsames Musical zwischen Realität, Surrealismus und Groteske.
Musikalische Leitung: Markus Syperek • Choreografie: Alessandra La Bella • Bühne: Michael Graessner • Kostüme: Sophie Peters • Mit: Azaria Dowuona-Hammond (Özcan), Salar Jafari (Samir), Linda Belinda Podszus (Linda), Nicolas Sidiropulos (Manólis), Oliver Urbanski (Wagner/Nowak), Armin Wahedi (Pocol/Tanata)
Aufmacherfoto: Thomas Koy