„Variationen über die Versuchung“ in später deutschsprachiger Erstaufführung
Manchmal dauert es Jahrzehnte, bis ein amerikanisches Musical hierzulande aus dem Schlummer wachgeküsst wird. Die Gründe sind vielfältig, der Erfolg keineswegs gewiss. Ein Schicksal, das auch „The Apple Tree“ von Jerry Bock und Sheldon Harnick ereilte. Beide hatten 1964 mit „Anatevka“ („Fiddler on the Roof“) einen Blockbuster hingelegt, zwei Jahre später absolvierte ihr nächstes Werk immerhin knapp 500 Aufführungen am Broadway. Dort gab es zwar später ein Revival, ein Sprung nach Europa findet sich aber nirgendwo verbrieft. Insofern bringt das Stadttheater Bremerhaven nun auf jeden Fall die deutschsprachige, vermutlich ebenfalls die kontinentale Erstaufführung heraus.
Wie einst Puccini mit „Il trittico“ (1918) reihte das New Yorker Kreativteam drei auf den ersten Blick unabhängige Kurzgeschichten auf literarische Grundlagen aneinander: „Das Tagebuch von Adam und Eva“, „Die Dame oder der Tiger“ und „Passionella: Eine Romanze aus den Sechzigern“. Verbunden sind diese durch den Untertitel „Variationen über die Versuchung“ und eine jeweils wiederkehrende Schlange als Verführer, Balladensänger und Fee. Es geht dabei um Irrungen und Wirrungen der ersten Menschen, ein wüstes Strafgericht in einem märchenhaften Königreich, wo Gefangene entweder eine Braut oder der tödliche Biss eines Raubtiers erwartet, sowie eine Cinderella-Romanze über eine Schornsteinfegerin mit Filmstar-Ambitionen, die schließlich ihre wahre Liebe findet.
Die Episoden hat Hartmut H. Forche geschliffen und geschmeidig übersetzt und Jerry Bock mit Songs im typischen Broadway-Sound veredelt, besonders im zweiten und finalen Teil. Etwas aus der Zeit gefallen wirkt das Musical aus heutiger Sicht trotzdem, Charme und Witz kommen entsprechend old fashioned daher, vor allem der Plot aus dem Garten Eden. Die Pointen entwickeln wenig Schubkraft, das Tempo lahmt, die Story zieht sich. Dramaturgisch zupackender gelingt der Rest. Regisseur Rennik-Jan Neggers versucht die passende Atmosphäre einzufangen, Stimmungen auszuloten, Dialoge zu vitalisieren. Das klappt nach der Pause deutlich besser.
Die Musik liegt bei Dirigent Davide Perniceni und dem Philharmonischen Orchester Bremerhaven in guten Händen, erstklassig in den teilweise jazzigen Songs „It’s a Fish“, „I Have Got What You Want“, „Tiger Tiger“, „Oh, to Be a Movie Star“ oder „Wealth“. Da sind Drive und Big-Band-Flair spürbar. Nele Neugebauer zeigt in „Die Dame oder der Tiger“ ihr handwerkliches Geschick und darf auch im letzten Part einge Show-Effekte entfachen. Die karge Ausstattung von Alexander McCargar fokussiert zentrale Aspekte zwischen Paradies und Glamour.
Rennik-Jan Neggers führt die Protagonisten souverän. Die müssen sich überwiegend in mindestens zwei Rollen wandlungsfähig beweisen. Das gelingt überzeugend. Victoria Kunze ist eine selbstbewusste Eva und mondäne Passionella, Andrew Irwin ein eher phlegmatischer Adam und kultiger Rocksänger George, Marcin Hutek eine diabolische Schlange und der inhaftierte Hauptmann, Ulrich Burdack ein plattdeutsch schwadronierender Chef und brutaler Herrscher, Boshana Milkov eine erotisch durchpulste Prinzessin Barbra.
„The Apple Tree“ verortet sich klar im Stil der 60er Jahre, noch gänzlich ohne rockige Rhythmen. Ein Konzeptmusical mit Anspruch, das nicht auf Anhieb zündet. Das Publikum zögert anfänglich, am Schluss prasselt aber donnernder Applaus.
Musikalische Leitung: Davide Perniceni • Ausstattung: Alexander McCargar • Choreografie: Nele Neugebauer • Chor: Mario El Fakih Hernández • Licht: Daniel Lang • Mit: Victoria Kunze (Eva, Ella/Passionella), Andrew Irwin (Adam, Flipp/George Brown), Marcin Hutek (Schlange, Hauptmann Sanjar), Ulrich Burdack (Die Stimme von Gott, König Aerik, Erzähler), Boshana Milkov (Prinzessin Barbra), Patrick Ruyters (Balladensänger), Sydney Gabbard (Nadjira), Katharina Diegritz (Liebe gute Fee) • Opernchor des Stadttheaters Bremerhaven • Philharmonisches Orchester Bremerhaven
Aufmacherfoto: Heiko Sandelmann