73 Ungeheuerlich Kostuemproben copyright Ariane Totzke 73 | MUSICAL TODAY

Ungeheuerlich

Das Geheimnis des Walensees

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Venue
Verein Unter Freiem Himmel
by
Sami Hammi (Musik)
Bernd Stromberger (Buch und Liedtexte)
Direction
Simon Burkhalter
World premiere
2025

„Ungeheuerlich“ verwebt Mythen, Menschliches und Musik

Schon die Anreise zur Uraufführung von „Ungeheuerlich“ lässt ahnen, dass hier nicht nur ein Musicalabend, sondern ein ganzheitliches Erlebnis bevorsteht: Vom Anleger in Unterterzen bringt ein Schiff die Gäste direkt zur Seebühne. Auf dieser Fahrt nähert man sich einer Geschichte, wie sie nur hier an diesem Ort erzählt werden kann.

Das Stück spielt 1861, zur Blütezeit der Spinnerei Murg, und verbindet historische Fakten mit überlieferten Mythen und Märchen-Elementen. Im Mittelpunkt steht Anna von Quinten, die als Kind eine erschütternde Begegnung mit einer unerklärlichen Kraft im See hatte. An ihrer Seite: der bekannte Märchenforscher Jacob Grimm, der nach Murg reist, um ein neues Märchen aufzuspüren. Fabrikbesitzer Othmar Blumer – eine historisch verbürgte Figur – und die raue soziale Realität des Industriezeitalters geben der Geschichte Bodenhaftung, während zugleich ein unsichtbares, ungeheuerliches Wesen im Raum steht: die unkontrollierbare Stimme der Natur.

Das Buch von Bernd Stromberger verwebt gekonnt Gesellschaftskritik und Fantasie. Mit den Fragen nach weiblicher Selbstermächtigung, persönlichen Verlusten, der Suche nach Wahrheit und der Erkenntnis, dass manche Dinge besser geheim bleiben, ergibt sich ein gelungener Spannungsbogen. Die Musik von Sami Hammi besticht durch eingängige Melodien, die mal mystisch entrückt, mal erdig und rhythmisch sind. Dass die Musik vom Band kommt, tut der Emotionalität keinen Abbruch.

Regisseur Simon Burkhalter inszeniert mit großer Klarheit und Gespür für Atmosphäre. Er nutzt die Eigenheiten der Open-Air-Bühne meisterlich. Das Ensemble bringt ein bemerkenswertes Maß an Präsenz und Spielfreude und viel gesangliche und darstellerische Qualität auf die Bühne. Allen voran begeistert Martina Lory in der Rolle der Anna von Quinten mit ihrer wunderschön kraftvollen und doch nuancierten Stimme und mit einer Bühnenpräsenz, die sofort fesselt. Theodor Reichardt als Jacob Grimm überzeugt mit eindrucksvoller Mimik und sonorer Stimme. Eine linkisch-sympathische Figur erschafft Rolf Sommer als Grimms Assistent, der zwischen Liebe und Beflissenheit wechselt. Anina Rosa als Schaustellerin Henriette bringt Witz, Herzenswärme und viel komödiantisches Talent. Und als Vorarbeiterin Dora Mächler setzt Cécile Gschwind mit ihrer ruhigen Intensität starke Akzente. Jeder einzelne Beitrag aller Mitwirkenden trägt zum gelungenen Gesamteindruck bei.

Die vollständig aus Holz gefertigte Bühne von Dave Leuthold ist klug durchdacht. Mit drehbarem Mittelteil, aufklappbaren Bodenpaneelen und verschiebbaren Zäunen entfaltet sich eine wandlungsfähige Spielfläche. Im zweiten Akt kommen dann Licht- und Trockeneis-Effekte zum Einsatz, die die surreale Qualität des Geschehens unterstreichen. Liebevolle Akzente wie die beiden Marionetten runden das Gesamtkonzept ab.

Die Kostüme hat Manon Noémie Criblez mit großer Stilsicherheit gestaltet, sie verdeutlichen die sozialen Schichten ebenso wie individuelle Charakterzüge. Auch Maskenbild und Frisuren sind liebevoll umgesetzt und vermeiden jede Überzeichnung zugunsten der Authentizität. Die choreografischen Elemente von Evelina Stampa sind schlicht und stimmig. Kleine gestische Sequenzen und rhythmisierte Bewegungen tragen zur Verdichtung der Szenen bei.

„Ungeheuerlich“ ist das Resultat von zweieinhalb Jahren leidenschaftlicher Vorbereitung, getragen vom Verein „Unter Freiem Himmel“ und der Produktionsleitung von Markus Müller. Dass an der Premiere sogar eine Delegation aus Schottland anwesend war, verweist auf die symbolische Verwandtschaft mit Loch Ness – auch der Walensee ist tief, dunkel und voller Sagen. Wer nach dieser Erfahrung für alle Sinne wieder in das Schiff Richtung Unterterzen steigt, tut das nicht mehr nur als Passagier, sondern als Eingeweihter in das Ungeheuerliche, das vielleicht noch immer in den Tiefen des Walensees schlummert …


Choreografie: Evelina Stampa • Bühne und Licht: Dave Leuthold • Kostüme: Manon Noëmie Criblez • Sounddesign: Nico Ladde und Stefan Kostic • Mit: Martina Lory (Anna von Quinten), Mirjam Baur (Anneli), Theodor Reichardt (Prof. Jacob Grimm), Rolf Sommer (Gottlieb Sonderegger), Roland Herrmann (Othmar Blumer), Stefanie Verkerk (Ruth Blumer), Christian Menzi (Urs Nägeli), Cécile Gschwind (Dora Mächler), Nina Rehn (Lea Kälin), Lénárd Kókai (Fritz Krümplemann), Anina Rosa (Henriette Morgenroth), Raya Sarontino (Ottilie Abendroth)

Aufmacherfoto: Ariane Totzke

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