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Cabaret

Der ganz bewusste Tanz in den Untergang

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Venue
Capitol
by
Joe Masteroff (Buch)
Fred Ebb (Liedtexte)
John Kander (Musik)
Direction
Jens Daryousch Ravari
UraufführunG
1966

Tolle Stimmen in einer sorgfältigen Inszenierung des Klassikers „Cabaret“

Wie schön war die Zeit, als „Cabaret“ nur ein historischer Rückblick war – derzeit wird das Kander/Ebb-Musical mit jeder bedrohten Demokratie auf der Welt wieder zum brandaktuellen Lehrspiel. In einer nuancenreichen Inszenierung zeigt das Mannheimer Capitol vor allem die Auswirkung politischer Umstände aufs Private: wie Mutlosigkeit und Nicht-wissen-Wollen zum Zerbrechen persönlicher Beziehungen führen, zum bitteren Ende zweier gerade begonnenen Liebesgeschichten. Weniger grell, ja fast schon resigniert begleitet der Conférencier das Spiel.

Auf einer Bühne von Brecht’scher Kargheit – das Orchester sitzt hinten, agiert wird praktisch nur auf der Vorderbühne – zeigt Kostümbildnerin Sybille Gänßlen-Zeit schön, aber leider zu selten die Zeit des Jugendstils und der 1920er Jahre, etwa in den eleganten Wasserwellenfrisuren der Damen. Ansonsten nehmen Glitzer und Lurex überhand, sehr direkt erinnern die vier Tänzerinnen im Kit-Kat-Club in einer Nummer an Liza Minnellis Filmauftritt als Sally Bowles. Die Choreografien von Doris Marlis sind zweckdienlich, aber sicher nicht weltbewegend.

Manche Szenen stellen die Freizügigkeit der damaligen Zeit deutlich heraus, das lustvolle Grenzüberschreiten zur Nacktheit oder zur exzentrischen Extravaganz, etwa in der schwarzen Tournüre, die Andrea Matthias Pagani als Conférencier zum rosaroten Anzug trägt. Den Master of Ceremonies umweht unter seiner fast schon barocken Schminke der leise Hauch eines abgehalfterten Dandys, hinter seinen aggressiven Auftritten erscheint eine immer stärkere Müdigkeit, die im oft gestrichenen Song „Nichts berührt mich“ kulminiert: die Machtlosigkeit vor den Mächtigen. Gesungen wird durchweg deutsch, was bei Titeln wie „Vielleicht diesmal“ oder „Geld hält unsere Welt in Schwung“ zu einem Lächeln führt – sie hört man sonst fast immer im englischen Original.

Dass Cliff, der Dichter aus den USA, homosexuell ist, sehen wir etwas überfallartig gleich zu Beginn, als er während der Englisch-Stunden einen Quickie mit seiner Reisebekanntschaft Ernst Ludwig (Tim Stolberg) hinlegt. Sascha Stead spielt den erfolglosen Autor durchweg ernst, fast seriös; manchmal fragt man sich, welche Art von Inspiration er im wilden Berlin überhaupt sucht. Die Rolle ist oft mit Schauspielern besetzt, Steads hervorragende Stimme eröffnet ganz neue musikalische Perspektiven. Auch Jennifer Siemann arbeitet mit ihrem Tomboy-Charme gegen das Klischee von Sally Bowles an. Ihre tolle Beltstimme setzt sie wunderbar locker ein, immer wieder mischen sich bei ihren Clubauftritten die Gefühle der echten Sally in die reinen Shownummern. In ihrem laut und zynisch werdenden Zerwürfnis mit Cliff arbeitet die Inszenierung am Schluss die gewollte politische Ignoranz der Nachtclubsängerin heraus, genau jenes Gefühl vom gefährlichen, ganz bewussten Tanz in den Untergang.

Als erstaunlich jung gebliebenes Fräulein Schneider berlinert sich Susan Horn erfrischend spontan durch den Abend, eine Grande Dame mit Bodenhaftung und stimmlich alles andere als eine Diseuse; für eine relativ kleinformatige Produktion ist die Mannheimer Aufführung wirklich hervorragend besetzt. Die detailreich ausgespielten Dialoge des älteren Paares sind rührend zu beobachten. Bei „Oh Vaterland“ singt der liebenswerte Herr Schultz (Tilman Madaus) noch arglos mit, bevor eine Hakenkreuz-Fahne herunterknallt und einige Zuschauer zu Protesten reizt.

Die neunköpfige Band unter der Leitung von Marcos Padotzke trifft den Klang zwischen Broadway-Erfolg und zwielichtiger Nachtclub-Kapelle bestens, mit raffinierten dynamischen Nuancen. Das einzige, leider große Manko des Abends ist der viel zu laut ausgesteuerte, oft mit Hall belegte Ton. Am Schluss sitzt der Conférencier im Zug neben Cliff und will genauso raus aus Deutschland. Dann geht die fröhliche Musik kaputt, die Band spielt falsch und der Trommelwirbel wird entsetzlich laut.


Musikalische Leitung: Marcos Padotzke • Choreografie: Doris Marlis • Bühne und Licht: Michel Honold und Paul Hermann • Kostüme: Sybille Gänßlen-Zeit • Mit: Jennifer Siemann (Sally Bowles), Andrea Matthias Pagani (Conférencier), Susan Horn (Fräulein Schneider), Sascha Stead (Clifford Bradshaw), Tina Podstawa (Fräulein Franzi Kost), Tilman Madaus (Herr Schultz), Tim Stolberg (Ernst Ludwig), Felicitas Hadzik (Rosie), Isabel Thouw (Lulu), Katharina Meissner (Helga) u.a.

Aufmacherfoto: Rene van der Voorden/VoordenGraphy.com

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