FRanco Goblirsch | MUSICAL TODAY

Der zweite Kirschgarten

Endzeitstimmung unterm Obstbaum

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Venue
Neuköllner Oper
by
Wolfgang Böhmer (Musik)
Martin G. Berger (Buch und Liedtexte)
Direction
Alexandra Liedtke
World premiere
2025

„Der zweite Kirschgarten“ – ein Musical frei nach Tschechow

Schatten der Vergangenheit lasten drückend auf dieser Familie. Es gab üble Verstrickungen in den Kolonialismus, ungeklärte Konstellationen, viel Schweigen. Die Gegenwart zeigt tiefe Risse, offenbart Wunden. Irgendwie fliegt hier alles aus den Fugen. Nun sitzen die genervten, zweifelnden Akteure unter Obstbäumen und irrlichtern durch ihren fragilen Status quo. Strukturen lösen sich auf, am Ende brennt der Besitz: ein Symbol der Auflösung. Anton Tschechow hat daraus eine tragische Komödie modelliert, 1904 in Moskau uraufgeführt. „Der Kirschgarten“ verbreitete sich langsam über den Kontinent und geriet zur Vorlage für zwei Opern. Nun adaptieren Komponist Wolfgang Böhmer und Autor Martin G. Berger den Stoff für ihr Musical „Der zweite Kirschgarten“, das an der Neuköllner Oper erstmals präsentiert wird.

Ziemlich schwere Kost für das unterhaltende Genre bietet der Plot, den das Kreativteam schnurstracks und auf klarer Linie in die Gegenwart holt. Im abstrakten Raum, eine grün getönte Treppenkonstruktion als Wohnzimmer, kleidet Ausstatter Philip Rubner die Protagonisten in heutigen Outfits ein. Es geht um brisante Themen wie Erbschuld und mögliche Sühne, Verantwortung, heikle Besitzrechte und Gerechtigkeit. Aus der Vergangenheit drängen sich neuralgische Punkte ins Jetzt und verwerfen Gemüter. Der Urgroßvater scheffelte einst Geld in Namibia, worüber sämtliche Nachkommen verstummten. Andrea flüchtet sich in Alkohol, Onkel Gerald in riskante Finanz-Transaktionen, Trofimov in revolutionäre Fantasien, Anja in amouröse Gefühle, Lopachin versucht es mit Balancen, während Varja den nagenden Frust in emotionalen Ausbrüchen kompensiert. Es knistert gewaltig, ohne Chance auf harmonischere Strömungen – bleierne Endzeitatmosphäre liegt in der Luft.

Nicht immer erschließen sich die verschiedenen Aspekte, manches verrätselt sich in den Dialogen, einiges bleibt pure Behauptung und zu plakativ. Oft treffen die Liedtexte dafür den Kern, fokussieren die disruptiven Stimmungen wie im Brennglas. Die Musik von Wolfgang Böhmer ist selten gefällig, sie kommentiert die Lage, illustriert subtil und höchst geschickt das Innenleben der Personen, greift gern zu Jazz und Chanson, gelegentlich zur Ballade und fast nie zum gängigen Pop. Magnus Loddgard lässt mit seiner topfitten Band den vielfältigen Sound funkeln. „Mama haut raus“, der „Air B’n’B“-Song, „Es war fabulous („Die Versteigerung)“ oder „Nach vorne zurück“ markieren die Spitzen und streuen, fein dosiert, ein paar heitere Augenblicke in das philosophisch aufgeladene Stück, das inhaltlich gefährlich vor dem Abgrund kippelt.

Das Musical scheint von Stephen Sondheim inspiriert zu sein und schielt nicht auf kommerzielle Verwendbarkeit – dazu sind Text und Musik zu anspruchsvoll und komplex. Die Regie von Alexandra Liedtke komprimiert den Seelenkompass der handelnden Figuren, zielt auf Logik, gutes Timing, zugespitzte Konflikte und Bewegung. Die unterstützt Paul Blackman mit seiner eher dezenten Choreografie.

Das kleine Ensemble agiert enorm präsent, konzentriert und beweist veritable Klasse: Franziska Junge beeindruckt als desolate Andrea, Julia Klotz ist eine überhitzte Varja, Tina Ajala als Lopachin ein Ruhepol, Laura Goblirsch gefällt als leicht naive Anja, Markus Schöttl darf als Gerald den aufgedrehten Deppen spielen und Samuel Franco punktet als Trofimov mit kritischen Tönen zur kolonialen Vergangenheit und aktuellen Bezügen. Das Dickicht aus zahlreichen Metaphern können sie trotzdem nicht immer lichten. „Der zweite Kirschgarten“ besticht aber durch seine Musik, die stringente Regie und eine Darsteller-Riege in Bestform. Das Uraufführungspublikum reagiert zustimmend.


Musikalische Leitung: Magnus Loddgard • Regie: Alexandra Liedtke • Choreografie: Paul Blackman • Ausstattung: Philip Rubner • Licht: Friedrich Schmidt • Sounddesign: Ronald Dávila • Mit: Franziska Junge (Andrea Ransberger), Julia Klotz (Varja Ransberger), Tina Ajala (Louise „Lolo“ Lopachin), Laura Goblirsch (Anja Ransberger), Markus Schöttl (Gerald Lehmann), Samuel Franco (Sebastian Trofimov) • Band der Neuköllner Oper

Aufmacherfoto: Peter van Heesen

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