Cabaret klein 58 | MUSICAL TODAY

Cabaret

Starker Start

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Venue
Theater Eisleben
by
John Kander (Musik)
Joe Masteroff (Buch)
Fred Ebb (Liedtexte)
Robert Gilbert (Deutsche Fassung)
Direction
Frank Martin Widmaier
World premiere
1966

„Cabaret“ ist überall

Würde man diese „Cabaret“-Produktion am Rande einer Großstadt sehen, wäre sie bei Hipstern und Musical-Maniacs Kult. Das Theater Eisleben kann seit der Premiere Ende September über mangelnde Publikumsströme nicht klagen. Dabei ist eine so große Schauspiel- und Tanzproduktion mit eigens aus Leipzig verpflichteter Combo für das Kreistheater ungewöhnlich, ja außerordentlich. Mit Vollgas und spürbarem Nachdruck strebt das Theater Eisleben für die Lutherstadt, das Mansfelder Land und den Südharz die Position eines vielseitigen Kulturzentrums inklusive Kino an.

Es empfiehlt sich ein kurzer Blick auf die außergewöhnliche Geschichte des ambitionierten Bühnenbetriebs: Das erste Theater der Nachkriegszeit positionierte sich in einem früheren Gartenrestaurant und spielte in der DDR Schauspiel, Konzerte sowie manchmal Musicals wie „Gute Nacht, Bettina!“. Nach der Wende behauptete sich das personell existenziell verschlankte Haus 31 Spielzeiten unter der Intendanz von Ulrich Fischer. Jetzt sorgt Frank Martin Widmaier mit frischem Wind und einem Programm für alle Generationen für intensive Verankerung in der besiedlungsarmen Region. Er verdichtet das Gastspielangebot mit Musiktheater von der Musikhochschule Leipzig, Konzerte mit der Staatskapelle Halle und Magneten wie Dagmar Frederic, aber auch mit ambitionierten Stücken im zuletzt relativ selten genutzten Großen Haus. Eine Wiederaufnahme von „Cabaret“ und eine neue Musical-Großproduktion sind in Planung.

Den Kit Kat Club, dessen Tage im Schatten der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gezählt sind, rückt Patricia Walczak mit einem metallenen Laufsteg ins Parkett noch näher ans Publikum. Diese „Cabaret“-Produktion zeigt die Armut im Spree-Athen der Zwischenkriegszeit mit expressiver Deutlichkeit. Bedrohungen durch das völkische Gewaltpotenzial und die Angriffe gegen den libertinären Zeitgeist entwickeln sich ohne melodramatisch raunendes Menetekel. Damit setzt Widmaiers stimmige Besetzung ein lebendiges Spiel mit drastisch aufscheinenden Parallelen zur Gegenwart – fern von Belehrungsambitionen, aber mit offenem Blick auf unentschuldbare Gewalt-Eskalationen und Verletzungen der Menschenwürde. Diese sehr ehrliche Darstellung der Figuren macht beklommen. Bei Annette Baldin merkt man, dass das Lebendigste an Fräulein Schneider deren geschmeidiger Pragmatismus ist. Oliver Beck gibt einen eindrucksvoll gebrochenen Herrn Schulze. Die Combo unter Melchior Walther funkt dazu mit einem rüdem – und deshalb Kanders genialen Songs angemessenem – Sound ins Geschehen. Über allem schwebt der ziemlich uncoole und bemerkenswert sinnliche Conférencier von Christopher Wartig als dunkler Engel des Kit Kat Club.

Im derzeitigen Klima, das Queerness auch ohne binäre Schubladen definiert, gewinnt der Handlungsmittelpunkt von „Cabaret“ an Plausibilität und Spannung. Die zwischen allen Mustern stehende, also an sich selbst verbrennende Beziehung des „Miljö“-Starlets Sally Bowles und des amerikanischen Autor Cliff, der seine erotischen Ladehemmungen hier verkompliziert und gerade deshalb überwindet, gewinnt eine verschärfte Dimension. Vivian Micksch ist im Absturz fast noch eindringlicher als in ihren Bühnentänzen als „extraordinäre Person“. Julius Christodulow zeigt als Alter Ego des Verfassers der Berlin-Stories, dass dessen vorgebliche Beobachter- und Außenstellung in erster Linie eine Selbstschutzlüge ist. Mit smarter Suggestion und zunehmend enthemmter Gewalt lädt Marcel Frank den Parteianhänger Ernst Ludwig auf. Friederike Fink befreit Fräulein Kost von Bordsteinschwalben-Klischees. Und Julius Böhning heizt als Zuhälter, Dauerkunde, Freier und Gigolo allen ein, die das zu schätzen wissen. Im virtuosen Tanz-Ensemble teilen sich alle Besetzungen die Positionen fair und redlich. Man sieht: Strikt binäre Besetzungen sind sogar in ländlichen Regionen out. Auch unter diesem Aspekt bietet das Theater Eisleben aktuelles und geschärftes Musical.


Musikalische Leitung: Melchior Walther • Regie: Frank Martin Widmaier • Choreografie: Romeo Salazar • Ausstattung: Patricia Walczak • Mit: Vivian Micksch (Sally Bowles), Julius Christodulow (Clifford Bradshaw), Christopher Wartig (Conférencier), Marcel Frank (Ernst Ludwig), Annette Baldin (Fräulein Schneider), Friederike Fink (Fräulein Kost), Oliver Beck (Herr Schultz), Julius Böhning (Maximilian/Seemann/Matrose/Kit Kat Boy), Khanh Vi Pham Do (Kit Kat Girl Trixie/Dance Captain), Pascal Koch (Kit Kat Boy Bobby/Gorilla), Diandra Ursu (Kit Kat Girl Inge), Laura Sophie Schröder (Kit Kat Girl Helga) u.a.

Aufmacherfoto: Julia Fenske

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