Slippery Slope Presse@nataliegrebe DSC7450 | MUSICAL TODAY

Slippery Slope – Fast ein Musical

Cancel Culture im Social-Media-Abgrund

qi addons for elementor placeholder | MUSICAL TODAY
Venue
Nationaltheater Mannheim
by
Shlomi Shaban, Yaniv Fridel und Ofer Shabi (Musik)
Yael Ronen (Buch und Liedtexte)
Direction
Anaïs Durand-Mauptit
UraufführunG
2021

„Slippery Slope“ ist ein Meta-Musical zum Mitdenken

Der „Slippery Slope“ ist ein Abhang, auf dem der Sturz, ist man einmal ausgerutscht, nicht mehr aufzuhalten ist – die Rutschbahn in den Abgrund sozusagen. Was in diesem 2021 im Berliner Maxim Gorki Theater uraufgeführten und seither oft nachgespielten Stück ziemlich cringey anfängt, wird im Lauf der Handlung immer spannender und abgründiger. Die Groteske der israelisch-österreichischen Theatermacherin Yael Ronen, im Untertitel „Fast ein Musical“, wird erschreckend wahr.

Wir sehen live, wie das Comeback des großen Songwriters Gustav Gundesson misslingt; der alte weiße Mann soll seine Musik bei den Beduinen und beim Klezmer geklaut haben, außerdem stammt seine junge Geliebte Sky vom Volk der Roma, was zum Vorwurf rassistisch motivierter toxischer Männlichkeit führt. Sobald Sky selbst im Rampenlicht steht, vernichtet die junge Muse ihren Mentor viral und wird zum TikTok-Popsternchen, bevor sie selbst ein Shitstorm wegfegt, wegen „Aneignung“ der Musik der People of Color. Über die Journalistin Stanka, die Skys Story vermarktet hatte, fällt der Mob her, weil sie mit ihrem radikalen Feminismus eine Pornodarstellerin in den Selbstmord getrieben hat. Stankas coole Chefredakteurin Klara, gleichzeitig Gustavs betrogene Ehefrau, will in die Politik und schießt kalkuliert den Verlierer-Gatten ab, bis am Ende auch sie ihr Skandal ereilt.

Jede(r) einzelne wird hier gebasht und gecancelt, jede vorgeblich empathische Enthüllung entpuppt sich als gewollter Medienskandal. Obwohl die Geschichte detailreich und oft sehr sarkastisch ausgeschmückt ist, geben die Figuren doch ganz gewollt gesellschaftliche Klischeebilder wieder, zu deren Charakterisierung die aufwendigen und höchst einfallsreichen Kostüme von Hilke Fomferra wesentlich beitragen.

So trägt Sky (die mädchenhaft-aufsässige Shirin Ali) einmal ein durchsichtiges Ballerinen-Tutu, auf das Regen fällt – ein tolles Bild. Annemarie Brüntjen hüllt sich als knallharte Feministin Stanka in Karos und Leder, der ruhige Sarkasmus von Klara (Jessica Higgins) spiegelt sich in exaltierter Laufsteg-Eleganz. Gustav alias Patrick Schnicke verpeilt in seinem Samtjackett definitiv die Lage, Barış Özbük hiphopt als Skys aggressiver Begleiter und glitzert als schmieriger Krisenberater Kahn, vielleicht die zynischste aller Figuren. Er hat mehrere Kategorien öffentlicher Entschuldigungen bis hin zum Totschweigen im Angebot, weil eines gewiss ist: Der nächste Skandal kommt gewiss und fegt den letzten hinweg.

„Believe in Me“ heißt mit schönen Gospel-Anklängen Gustavs Einstiegssong, der am Ende zum klassischen Musicalfinale wird: Glaub mir einfach – und erschreckt nimmt man den Mechanismus zur Kenntnis, wie durch Gesang alles gefühliger und deshalb wahrer wird. Wer singt, kann nicht lügen, in fast schon genialischer Anschmiegung zitieren die durchweg richtig guten Songs des israelischen Komponisten Shlomi Shaban eine dunkle Roma-Melancholie, den Laute-Röhre-Feminismus aktueller Popqueens oder einen angriffslustigen Deutsch-Rap („Ich hab’s produziert und ge-edited, und nur ich wird gecredited“). Klara singt eloquent und schnell oder den „Einsamen Queensize-Bett“-Blues, Ronens anspielungsreiche Texte haben Tiefgang und machen fiesen Spaß. Dass mit Angela Frontera und Sophia Günst ganze zwei Musikerinnen derart viele atmosphärische Klangfarben zwischen Heavy Rock und Cello-Melancholie zaubern, mag man kaum glauben. 

Regisseurin Anaïs Durand-Mauptit charakterisiert die Figuren subtil und zeigt ständig, wie die Mechanismen des Theaters funktionieren. Einmal tanzen riesige Emojis im Hintergrund, der Einfluss von Social Media ist neben der Cancel Culture ein Hauptthema des Stücks. Jede Äußerung gerät zum Auftritt, Fakten sind nicht wichtig, allein der Skandal. Schöner als Glauben ist nur die Zerstörung. Neu ist das nicht („Everybody’s playing the game“, wusste schon Tim Rice in „Chess“), aber ein treffendes Abbild unserer Zeit. Und harter Stoff für ein Musical.


Musikalische Leitung: Sophia Günst • Regie: Anaïs Durand-Mauptit • Choreografie: Emma Kate Tilson • Ausstattung: Hilke Fomferra • Licht: Wolfgang Schüle • Mit: Patrick Schnicke (Gustav), Shirin Ali (Sky), Jessica Higgins (Klara), Annemarie Brüntjen (Stanka), Barış Özbük (Shantez/Kahn) • Live-Musik: Angela Frontera (Schlagzeug, Percussion, Melodica, Kalimba), Sophia Günst (Cello, Kontrabass, E-Bass, Keys, Gesang)

Aufmacherfoto: Natalie Grebe

Spielorte

Archive