
„Titanic“ opulent und subtil zugleich in Szene gesetzt
Seit Intendant Rainer Roos 2015 die künstlerische Leitung der Festspiele übernommen hat, ist das Musical im Schlosshof von Zwingenberg eingezogen und hat das winzige Neckar-Städtchen zu einer kleinen, aber bedeutsamen Spielstätte gemacht. Etliche junge Sänger haben hier ihre ersten großen Rollen gesungen und einige kommen auch gerne wieder, so wie Patrick Stanke, der in diesem Jahr mit „Titanic“ seine erste Regiearbeit abliefert und auch in einer wichtigen Rolle zu erleben ist. Es ist die größte Musicalproduktion bisher: Unmengen von Rollen und ein 18-köpfiges Orchester waren zu besetzen, das Bühnenbild mit den vielen verschiedenen Ebenen ist eine Herausforderung. Aber dem erfahrenen Bühnenbildner Helmut Mühlbacher gelingt es erneut, die Bühne im Schlosshof mit ihren besonderen Gegebenheiten spektakulär in Szene zu setzen.
Dass so ein Megaprojekt wie „Titanic“ überhaupt realisiert werden kann, liegt nicht zuletzt an der „magischen Zwingenberg-Synergie“, die hier schon viele hochklassige Aufführungen befeuert hat. Die Crew um Rainer Roos, der über ausgezeichnete Kontakte zur internationalen Musicalszene verfügt, kann auf ein tolles lokales Netzwerk bauen: ein musikalischer Mikrokosmos, der bei allen Beteiligten ungeahnte kreative Effekte freisetzt. Dieser legendäre, fast familiäre und von hohem Respekt getragene Zusammenhalt von etablierten Stars, aufstrebenden Profis, Hobbysängern und Ehrenamtlichen ist der Schlüssel zum Erfolg, trotz eines knappen Budgets (nicht zu vergleichen mit hochsubventionierten Theaterhäusern) hochprofessionelle Arbeit zu leisten.
Mit „Titanic“ haben sie ein logistisches Meisterwerk abgeliefert. Allein die Eröffnungsszene ist clever inszeniert als Gedenkveranstaltung im Titanic-Museum, in dem Besucher beeindruckt die dort ausgestellten Objekte und Dokumente des Untergangs betrachten. Dann kommt Bewegung in die Szene, die Besucher werden zu Passagieren und Crewmitgliedern, die 2012 in Southampton an Bord des nagelneuen Luxusdampfers gehen. Eine ziemlich bunte Gesellschaft strömt da zusammen: arme Schlucker wie die drei irischen Mädels, die ihren letzten Penny für die Überfahrt zusammengekratzt haben, gelangweilte Millionäre, ehrgeizige Emporkömmlinge. Aber an Bord ist alles streng nach Klassen getrennt und soll auch so bleiben, genau wie im Leben.
„Titanic“ erzählt das historische Ereignis vor allem als menschliches Drama. Anstatt fiktiver Figuren werden reale Schicksale der Menschen an Bord aufgegriffen, ihre Träume und Hoffnungen und wie sie dem drohenden Untergang begegnen. Geschickt hat Komponist Maury Yeston parallel ablaufende Szenen miteinander verwoben und seinen Protagonisten ausdrucksstarke Songs mitgegeben. Großartig sind Patrick Stanke als aufrechter Schiffskonstrukteur Thomas Andrews, Matthias Graf in der Rolle des von Selbstzweifeln gepeinigten Ersten Offiziers William Murdoch und Holger Ries als Kapitän E. J. Smith, dem der unangenehme Schiffseigner Ismay (gespielt von Bernhard Bettermann) im Nacken sitzt, mit Volldampf voraus alle Eisberg-Warnungen zu ignorieren, bis die Katastrophe ihren Lauf nimmt. Sebastian Seitz als Heizer Fred Barrett und Jeroen Sigterman als Funker Harold Bride haben die vielleicht schönsten Lieder des Stücks zu singen und machen ihre Sache ganz wunderbar, ebenso wie Estelle Céline Klein als Klatschnudel Alice Beane und Maria Meßner als Kate McGowan. Die vielen kleineren Solorollen sind mit Chorsolisten besetzt.
Während die Titanic immer mehr in Schieflage gerät, was optisch interessant gelöst ist, spielen sich an Deck berührende Szenen ab, auch Momente stillen Heldentums gibt es und sogar einen Schuss humorvollen Fatalismus. Am Ende formiert sich ein wirklich atemberaubendes Schlussbild, das den Zuschauern sicher noch lange in Erinnerung bleiben wird.
Musikalische Leitung: Rainer Roos • Regie: Patrick Stanke • Choreografie: Kati Heidebrecht • Bühne: Helmut Mühlbacher • Kostüme: Friederike von Dewitz • Chorleitung: Ute Ellenberger • Kinderchorleitung: Natalie Reinig • Mit: Holger Ries (Kapitän E. J. Smith), Sebastian Seitz (Heizer Frederick Barrett), Jeroen Sigterman (Funker Harold Bride), Markus Dietz (Steward Henry Etches), Sven Wagenhöfer (Ausguck Frederick Fleet), Jean-Baptiste Vizmathy (Bandleader Wallace Hartley), Matthias Graf (1. Offizier William Murdoch), Michael Ewig (2. Offizier Charles Lightoller), Niklas Fader (3. Offizier Herbert Pitman), Jonathan Agar (4. Offizier Joseph Boxhall), Marc Ellenberger (Quartiermeister Robert Hichens), Christoph Bodga (Steward Andrew Latimer), Alex Nöltner (1. Steward), Max Löhlein (2. Steward), Melanie Hess, Sara Diehl (2 Stewardessen), Leon Stefanescu (Steward Mr. Beecham), Florian Bauer (Steward Mr. Weikman), Tim Holetz (Steward Mr. Hutchinson), Alois Flury (Chefingenieur im Heizraum Josef Bell), Max Löhlein (Heizer 1), Alex Nöltner (Heizer 2), Isabell Zimmermann (Krankenschwester Mrs. Robinson), Patrick Stanke (Ingenieur Thomas Andrews), Bernhard Bettermann (Eigentümer J. Bruce Ismay), Estelle Céline Klein (Alice Beane), Maria Meßner (Kate McGowan) u.a. • Orchester der Schlossfestspiele
Aufmacherfoto: ehFoto&Grafie/Emília Horpácsi