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Wintergreen for President! (Of Thee I Sing)

Karottenkuchen schlägt Sexappeal

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oRT
Stadttheater Gießen
von
George Gershwin (Musik)
Ira Gershwin (Liedtexte)
George S. Kaufman und Morrie Ryskind (Buch)
Regie
Philipp Grigorian
Uraufführung
1931

„Wintergreen for President!“ erlebt seine spritzige deutsche Erstaufführung

1932 wurde der Pulitzer-Preis in der Sparte „Drama“ zum ersten Mal an ein Musiktheaterwerk vergeben, ausgerechnet an ein Musical. Ein Kritiker der Uraufführung hielt die so ausgezeichnete Politsatire „Of Thee I Sing“ für derart scharf, dass sie erst mit der Musik Gershwins erträglich werde. 90 Jahre später wirkt der Plot angesichts der gegenwärtigen Realsatire im Weißen Haus recht harmlos: Ein unbedarfter Nobody, Wintergreen, wird zum Präsidentschaftskandidaten. Die Kampagne setzt unpolitisch auf das Thema „Liebe“. So wird ein Wettbewerb um die Hand des unverheirateten Kandidaten ausgelobt. Das Rennen um die Stelle der künftigen First Lady macht die Südstaatenschönheit Diana Deveraux. Wintergreen aber will die unscheinbare Sekretärin Mary Turner heiraten, weil sie vorzüglichen Karottenkuchen backt („ohne Karotten!“). Diana wird aufs Abstellgleis geschoben, weiß sich aber zu rächen: Sie sei „die illegitime Tochter eines illegitimen Sohnes des illegitimen Neffen von Napoleon“ und ihre Zurückweisung ein Affront gegenüber der französischen Nation. Der inzwischen ins Amt gelangte Präsident sieht sich also mit einer außenpolitischen Krise konfrontiert.

Sein per Zufallsprinzip bestimmter Vizepräsident Throttlebottom (der Name ist durch das Musical in Amerika sprichwörtlich geworden für einen unfähigen Handlanger in einem öffentlichen Amt) wittert seine Chance auf die Präsidentschaft und betreibt im Senat ein Amtsenthebungsverfahren. Dies verhindert schließlich Mary mit der Nachricht von ihrer Schwangerschaft. Auf offener Bühne werden Zwillinge entbunden. Der französische Botschafter reagiert empört: Gleich zwei Kinder wurden der Grande Nation vorenthalten! Das sei ein Kriegsgrund. Schließlich kommt Wintergreen die Verfassung zu Hilfe: Wenn der Präsident an der Amtsführung gehindert ist, muss der Vizepräsident einspringen. Und so heiratet Throttlebottom Diana. Happy End.

Das Produktionsteam um Philipp Grigorian hat weise darauf verzichtet, den aktuellen Wahnsinn in Washington auf die Bühne zu stellen und etwa Wintergreen als Doppelgänger Donald Trumps zu zeigen. Dazu ist die Figur mit Clarke Ruth und seinem satten, operngeschulten Bariton zu sympathisch besetzt. Spätestens wenn er seine Mary mit „Of Thee I Sing“ anschmachtet, hat er die Herzen nicht nur des weiblichen Publikums gewonnen. Das Bühnenbild besteht aus einer Scheibe, auf der sich Requisiten je nach szenischem Bedarf arrangieren lassen. Aus dem Schnürboden heruntergefahrene Prospekte gewährleisten schnelle Szenenwechsel.

Unter den Beratern des Präsidenten finden sich der Werbeclown Ronald McDonald sowie der Gründer und Werbeträger von „Kentucky Fried Chicken“ – sie deuten einen Hauch von Kritik an Kapitalismus und Mediendemokratie an. Im Übrigen wird die Handlung recht textbuchtreu umgesetzt, samt den klischeehaften Frauenbildern der 1930er Jahre. Maya Blaustein gibt die kuchenbackende First Lady mit operettenhellem Sopran als musterhaftes Hausweibchen, Izabella Radić mit üppiger Naturstimme die Diana als geistig schlichte, etwas ordinäre Sexbombe. Mitglieder des Theaterensembles und des hauseigenen Chores schlüpfen in die zahlreichen Nebenrollen. Sie genießen singend und tanzend den spritzigen Humor der Texte und den vom Orchester unter der Leitung von Vladimir Yaskorski mit unwiderstehlichem Drive umgesetzten symphonischen Jazz-Sound Gershwins. Zur heimlichen Hauptfigur macht Tomi Wendt seinen Throttlebottom, den er so gekonnt als vertrottelten Greis auf die Bühne stellt, dass er ein wenig dem Titelhelden die Show stiehlt.

Kurzweilig, quirlig und angemessen überdreht gerät diese Aufführung. Als politische Satire hat das Stück seit seiner Entstehung zwar an Schärfe verloren. Aber wie sagte bereits George S. Kaufman, einer der Autoren des Textbuchs: „Satire is what closes on Saturday night.“ Und genau das bietet die Gießener Produktion: gute Samstagabend-Unterhaltung.


Musikalische Leitung: Vladimir Yaskorski • Regie und Bühne: Philipp Grigorian • Choreografie: Anna Abalikhina • Kostüme: Moritz Haakh • Licht: Konstantin Wassilewskij • Musikalische Einstudierung: Clemens Mohr und Evgeni Ganev • Chorleitung: Moritz Laurer • Mit: Clarke Ruth (John P. Wintergreen), Maya Blaustein (Mary Turner), Izabella Radić (Diana Deveraux), Tomi Wendt (Alexander Throttlebottom), Ben Janssen (Francis X. Gilhooley), Nils Eric Müller (Senator Carver Jones), Davíd Gaviria (Louis Lippman), Anne-Elise Minetti (Miss Benson/Senator of Massachusets), Max Koltai (Sam Jenkins), Nikolaus Nitzsche (Matthew Arnold Fulton), Lukas T. Goldbach (Senator Robert E. Lyons), Levent Kelleli (Französischer Botschafter/Touristenführer), Antje Tiné (Vorsitzender Richter des Höchsten Gerichts), Natascha Jung (Senatsschreiberin), Vepkhia Tsiklauri (Arzt) • Opernchor des Stadttheaters Gießen • Philharmonisches Orchester Gießen

Aufmacherfoto: Christian Schuller

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