Zum ersten Mal kommt ein Disney-Musical als „Weltpremiere“ nach Hamburg
„Hercules“ hat Anlaufschwierigkeiten, lässt einen in den ersten Minuten kalt – bis die Show auf Betriebstemperatur ist. Dann aber tobt im Theater Neue Flora der Saal. Der Disney Theatrical Group und Stage Entertainment glückt, ganz wie in der Zeichentrickvorlage von 1997, das Spiel mit den Zeiten und Stilen hervorragend. Selten waren sich Antike und Gospel so nah. Diese Fusion hat nicht nur ein Gesicht, sondern gleich fünf: Leslie Beehann, Chasity Crisp, Venolia Manale, UZOH und Shekinah McFarlane sind die stimmgewaltigen Stars des Abends. Als Musen führen sie durch die Geschichte, heizen sich gegenseitig an, schlüpfen in ständig wechselnde Kostüme mit Schauwert (Gregg Barnes und Sky Switser).
Stichwort Schauwerte: Damit geizt die Produktion in keiner Sekunde, technisch erlebt man ein perfekt durchdachtes Spektakel (Regie und Choreografie: Casey Nicholaw). Eine erste „Hercules“-Bühnenversion im New Yorker Central Park stieß 2019 auf ziemlich durchwachsenes Echo, die Produktion fand damals Open-Air statt. Wenn man jetzt in der Hamburger Gala-Premiere sitzt, wundert man sich über den damals ausbleibenden Erfolg nicht wirklich: Diese Show lebt von ihren Effekten. Gigantische antike Tempelsäulen auf Drehscheiben sorgen für die nötige Dynamik, wunderschöne Mosaike auf der LED-Rückwand schaffen eine herrlich idyllische Atmosphäre, die Unterwelt ist eine Sumpfgrotte mit Nebeleffekten, moosgrünen Lebensfäden und modrig-schmiedeeisernen Treppen – Puppentrick-Elemente wie Hydra-Köpfe mit feurig glühenden Augen oder ein meterhoher Eisentitan in „Herr der Ringe“-Optik inklusive (Bühne: Dane Laffrey).
Die wenigen Songs der Filmvorlage hätten für ein abendfüllendes Musical nicht ausgereicht. Alan Menken, Disney-Legende und achtfacher Oscar-Preisträger, hat die von Robert Horn und Kwame Kwei-Armah für die Bühne aufbereitete Handlung deshalb mit Texter David Zippel kurzerhand um sieben neue Songs angereichert. Man merkt Menken den jahrzehntelangen Theaterpraktiker an, der Abend setzt auf Soul, Pop und Gospel und wirkt musikalisch wie aus einem Guss, wenn auch die Klassiker mehr im Ohr bleiben (was aber auch dem Nostalgiebonus geschuldet sein könnte).
Ein „heldenhaftes Musical“ lebt natürlich auch von entsprechenden Gesangsleistungen, schwungvoll gesteuert von Hannes Schauz am Orchesterpult. Benét Monteiro in der Titelrolle lässt mit naivem Gute-Laune-Gemüt das Kind im Manne hochleben und punktet nicht nur in „Endlich angekommen“ („Go the Distance“) mit Power ebenso wie mit Geschmeidigkeit. Mae Ann Jorolan ist Hercules’ Achillesferse Meg, die mit bissiger „Mir-Egal-Fassade“ und sinnlicher Bruststimme beweist, dass eine harte Schale auch einen weichen Kern haben kann. Detlef Leistenschneider hat Swing im Blut, mit rau-kratzbürstiger Aura mimt er den verstoßenen Bösewicht-Onkel Hades, der auf Rache sinnt und den Olymp erobern will. Mit „typisch Freud’schen Überreaktionen“ sorgt er immer wieder für Lacher („Mami, knuddel mich doch mal!“).
Charakterdarsteller Kristofer Weinstein-Storey als „sturer Bock“ trainiert Hercules für seinen Kampf zur Rettung der (Götter-)Welt und bringt mit seiner „PHIL-Methode“ immer wieder in Erinnerung, worauf es bei einem wahren Helden wirklich ankommt (Power, Herz, Intelligenz, Liebe). Aus den Film-Sidekicks Pech und Schwefel werden im Musical Karl (Mario Saccoccio) und Heinz (André Haedicke), die beweisen, dass man dem Bösen manchmal eben einfach nicht böse sein kann. Einzig Zeus (Stefano Francabandiera) und Hera (Marta Di Giulio) bleiben arg farblos und werden zu reinen Stichwortgebern degradiert – der Charme des Göttervaters aus der Filmvorlage geht so komplett flöten. Und ein weiteres großes Manko: die Textverständlichkeit der Musen, denen man inhaltlich leider kaum folgen kann.
In Sachen Popularität ist „Hercules“ sicher nicht vergleichbar mit bisherigen Musical-Dauerbrennern aus dem Hause Disney. Mit einer Produktion wie dieser stehen die Chancen auf einen weiteren Erfolg aber alles andere als schlecht. Die Charaktere bleiben letztlich zwar etwas eindimensional, haben aber viel Charme und eine gehörige Prise (Spar-)Witz zu bieten. „Hercules“ ist Popcorn-Kino für die Bühne vom Feinsten.
Basierend auf dem Disney-Film • Orchestrierung: Danny Troob und Joseph Joubert • Arrangements: Michael Kosarin • Arrangements Tanzmusik: David Chase • Deutsch von Kevin Schroeder (Gesangstexte) und Ruth Deny (Buch)
Musikalische Leitung: Hannes Schauz • Regie: Casey Nicholaw und Ariel Reid • Choreografie: Casey Nicholaw, Tanisha Scott und Brendon Stimson • Bühne: Dane Laffrey • Kostüme: Gregg Barnes und Sky Switser • Licht: Jeff Croiter • Sounddesign: Kai Harada • Videodesign: George Reeve • Special Effects Design: Jeremy Chernick • Puppendesign und -regie: James Ortiz • Mit: Benét Monteiro (Hercules), Leslie Beehann (Kalliope), Chasity Crisp (Thalia), Venolia Manale (Terpsichore), UZOH (Klio), Shekinah McFarlane (Melpomene), Mae Ann Jorolan (Meg), Kristofer Weinstein-Storey (Phil), Detlef Leistenschneider (Hades), Mario Saccoccio (Karl), André Haedicke (Heinz), Sophie Mefan (Despina), Bathoni Buenorkuor (Medusa), Marta Di Giulio (Hera), Stefano Francabandiera (Zeus) u.a. • Orchester des Theaters Neue Flora
Aufmacherfoto: Johan Persson – Disney/Stage Entertainment