Kreislers Ein-Personen-Musical „Heute Abend: Lola Blau“ sorgt für einen emotionalen Abend
Es könnte nicht passender sein: Georg Kreislers „Heute Abend: Lola Blau“ über Kunst, Politik, Antisemitismus, Krieg und Flucht feiert geschichtsträchtig am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, Premiere im Theater das Zimmer. In Hamburgs kleinstem Haus mit nur 40 Plätzen kommt das Kammermusical mit den bittersüßen, Couplet-artigen Liedern mit Live-Klaviermusik und unverstärktem Gesang zur Aufführung.
Porträtiert wird das Leben der jüdischen Schauspielerin Lola Blau, die 1938, nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich, erst in die Schweiz und schließlich in die USA fliehen muss. Zwar kehrt sie nach Kriegsende zurück in ihre alte Heimat, begegnet dort aber immer noch den alten Denkmustern.
Schauspielerin und Sängerin Sandra Kiefer begeistert als Lola Blau von der ersten Sekunde an mit ihrer unglaublichen Spielfreude, ist frivol, nachdenklich, traurig, verzweifelt, zerbrechlich und mutig – mit feinen Schattierungen, teilweise im rasanten Wechsel und immer glaubhaft. So liegen beispielsweise klug dosierte Wut und Verzweiflung in ihrem Ausdruck, wenn sie einen Strauß Blumen mit einer Schere malträtiert. Genau diese Mimik braucht es, um das Publikum zu überzeugen, sitzt es doch nie weiter als zwei Meter von der Akteurin entfernt. Auch stimmlich beeindruckt Kiefer mit ihrer Wandlungsfähigkeit und liefert treffgenau jede Kreisler’sche Emotion – in zarten Höhen wie in frech-herben Tiefen, ob langsam oder schwungvoll.
Mit einer wunderbaren Leichtigkeit gibt Pianistin Henriette Zahn souverän die Kreisler-Lieder zum Besten. Sie wird auch für kleine Nebenrollen eingesetzt, mal als Vermieterin des Zimmers, mal als Schaffner oder Conférencière und dient ebenso – ob gewollt oder ungewollt, lässt die Darbietung geschickt offen – als Stichwortgeberin für Kiefer. Bemerkenswert ist, dass sie Akzente und Dialekte – ob Berlinerisch, Schwyzerdütsch oder Wienerisch – treffgenau artikuliert.
Regisseur Björn Kruse gelingt eine differenzierte Inszenierung, die – ganz im Sinne Kreislers – subtil die Zwischentöne zwischen Ernsthaftigkeit, Klamauk, Philosophie und schwarzem Humor auslotet. Geschickt bezieht er das Publikum gelegentlich ein: Da gibt es zur Erfrischung Almdudler, da muss bei der Übersetzung von englischen Schreiben geholfen werden, da stolpert Lola über die erste Reihe, die den vollen Bahnsteig darstellt. Mit einfachen, aber äußerst gekonnt eingesetzten Mitteln verwandelt er die Leichtigkeit in Sekundenschnelle in bedrückende Enge, so zum Beispiel, wenn an Szenen-Übergängen Hitler-Reden aus dem Volksempfänger poltern, der auf dem Klavier drapiert ist. Der stärkste Moment der Inszenierung entsteht, als Lola beim Lied „Alte Tränen“ die Städtenamen von angegriffenen bzw. zerstörten Städten im Bühnenbild aufhängt: Auf die im Zweiten Weltkrieg schwer getroffenen Städte Hamburg und Dresden folgen Kiew, Sanaa, Rafah, Gaza und Tel Aviv, was im Bruchteil von Sekunden eine drastische Aktualität schafft, die äußerst nahegeht. „Tel Aviv“ wird ausgerechnet auf dem Koffer platziert, mit dem Lola am Schluss das Zimmer verlässt – einfach, effektvoll, eindrucksvoll.
Mit mehreren Koffern, die im „Zimmer“ verteilt sind oder geöffnet als Garderobe Verwendung finden, sowie einer kleinen Kommode mit Schminkspiegel erzeugt Bühnenbildnerin Nicole Bettinger ein Gefühl ständigen Aufbruchs, was gemeinsam mit und auch im Kontrast zur heimeligen Enge des Raums die Aussage des Stücks unterstreicht und den perfekten Rahmen für die philosophischen, witzigen und satirischen Kreisler-Lieder schafft. Große Kunst auf kleinstem Raum – man möchte das Stück kaum noch auf größeren Bühnen sehen.
Musikalische Leitung und Piano: Henriette Zahn • Bühne: Nicole Bettinger • Choreografie: Ines Dyszy • Mit: Sandra Kiefer (Lola Blau)
Aufmacherfoto: Patrick Bieber