Das deutsche Stadttheater glänzt mit „A Christmas Carol“ von Altmeister Alan Menken
Wenn man als absoluter Weihnachtsmuffel strahlend aus einem Weihnachtsmusical herauskommt, dann fühlt man sich wie Ebenezer Scrooge: bekehrt. Die deutsche Erstaufführung von „A Christmas Carol“, Alan Menkens Adaption der Erzählung von Charles Dickens, ist eine echte Überraschung: turbulent, lustig und mit hohem Tempo bestens einstudiert. Der Pforzheimer Intendant Markus Hertel hat die dunkle, moraltriefende Geschichte aus dem alten London komplett aus dem eigenen Ensemble besetzt und liebevoll ironische Lichtlein über dem großen Aufwand an Mensch und Material verstreut. Bis hin zum Kinderchor und den Bühnenarbeitern verfällt das komplette Haus dem Weihnachtsrausch und erspielt sich am Ende der zweistündigen Aufführung eine 20-minütige Standing Ovation.
Die sozialkritische Handlung ist inzwischen auch bei uns bekannt: Der alte Geizhals Scrooge wird von vier Geistern besucht, die ihm seine Boshaftigkeit und Einsamkeit vor Augen führen, worauf er am Ende zum guten Menschen wird. Der erste Geist, Scrooges ehemaliger Geschäftskollege, ähnelt hier dem aufsässigen, struppigen Beetlejuice, die Szene ist mit tanzenden Skeletten, Zombies, Donner und Blitz so gruselig wie lustig inszeniert. Santiago Bürgi veranstaltet einen mächtigen Spuk, unterstützt vom symphonischen Wallen des Orchesters.
Kapriziös zeigt Joanna Lissai als Geist der vergangenen Weihnacht dem alten Geizhals, was er alles verpfuscht hat im Leben; ihre lyrisch-verspielte Musik klingt typisch nach Alan Menkens anderen Heldinnen, etwa nach Belle aus „Die Schöne und das Biest“. Eine große Shownummer zwischen Broadway und Samstag-Abend-Show legt Bernhard Meindl als Geist der gegenwärtigen Weihnacht hin – optisch eine Mischung aus Bacchus und Rasputin im langen Morgenmantel, bringt er Tänzer in glänzender Weihnachtsverpackung mit, dann wird gesteppt und eine Chorus Line wirft die Beine.
Nicht nur diese Nummer wurde mit einer fluffigen Operettenleichtigkeit inszeniert, bewundernswert ist die lockere, spontane Bewegungsregie des gesamten Abends (Choreografie: Mar Rodríguez Valverde). Oft genug kann man Chor und Ballett nicht mehr unterscheiden, gerade in den großen Nummern wie dem ausgelassenen Weihnachtsfest bei den Fezziwigs, wo sich die ganze Bühne in turbulenten Volkstänzen dreht. Kinder und Alte sind immer dabei, auf jeden wird hier Rücksicht genommen – herrlich die Oma an wackligen Krücken, die schließlich übermütig Rad schlägt. Als Scrooge wandelt sich Markus Wessiack überzeugend, wenn auch ein wenig hohlstimmig vom bellenden Fiesling zum fröhlich herumsausenden Wohltäter.
Die vielen Schauplätze auf dunklen Londoner Straßen oder in engen, aber heimeligen Wohnungen wurden von Erwin Bode liebevoll ausgestaltet und die Szenen gehen nahtlos ineinander über. Menken hat ein Ensemblestück geschrieben, und jeder ist hier mit vollem Einsatz dabei, so klein die vielen Rollen auch sein mögen. Einer der süßesten von sehr vielen lustigen Einfällen: Die Bühnenarbeiter, die unablässig Sofas, Kamine oder geschmückte Weihnachtstische erscheinen lassen, sind als rotgrüne Weihnachtselfen verkleidet, was die gestandenen Männer in gelegentliches Tänzeln versetzt.
Die anfangs durchkomponierte und munter von Schauplatz zu Schauplatz springende Musik nährt sich aus vielen Quellen, oft aus bodenständigen Polkas, aber es gibt auch Latino-Rhythmen, Ariosi, große Chöre und viele Lieder für die fröhlichen Solisten des Kinderchors. Die Texte von Lynn Ahrens wurden von Frank Thannhäuser und Iris Schumacher flüssig und sehr geerdet übersetzt. Mit dem groß besetzten Orchester unter der gefühlvollen Leitung von Philipp Haag sind hier deutlich mehr Menschen auf und unter der Bühne als in jeder Tourneeproduktion, und das zu wirklich familienfreundlichen Preisen. Warum nur wurde dieses Stück, das in den USA rauf und runter läuft, erst jetzt entdeckt?
Musikalische Leitung: Philipp Haag • Choreografie: Mar Rodríguez Valverde • Ausstattung: Erwin Bode • Licht: Michael Borowski • Sounddesign: Philipp Lykouresis • Chor: Johannes Berndt und Johannes Antoni • Mit: Markus Wessiack (Ebenezer Scrooge), Joanna Lissai (Lampenanzünder/Geist der vergangenen Weihnacht), Bernhard Meindl (Plakatträger/Geist der gegenwärtigen Weihnacht), Jina Choi (Alte blinde Frau/Geist der zukünftigen Weihnacht), Santiago Bürgi (Jacob Marley), Daniel Nicholson (Fred Anderson/Junger Scrooge), Cecilia Pastawski (Sally Anderson/Emily), Leopold Bier (Mr. Fezziwig), Lilian Huynen (Mrs. Fezziwig), Ingo Wagner (Bob Cratchit), Franziska Fait (Mrs. Cratchit), Sophie Klemisch (Mrs. Mops/Fan, Scrooges Schwester), Lukas Schmid-Wedeking (Büttel/Richter), Jon Geoffrey Goldsworthy (Mr. Smythe) u.a. • Chor und Kinderchor des Theaters Pforzheim • Tanz Theater Pforzheim • Badische Philharmonie Pforzheim
Aufmacherfoto: Sabine Haymann