David Bowies stimmgewaltiges Nostalgie-Musical „Lazarus“
Bunt, schrill, avantgardistisch: Das Chamäleon David Bowie durchlief eine rasante Karriere und hopste über Genregrenzen hinweg vom Glamrock zu kommerzialisiertem Pop. Er erfand sich stetig neu, beeinflusste kulturelle Normen mit seiner Gender-Performance und verwob künstlerische mit philosophischen Sujets in einem musikalischen Kanon von 26 Studioalben. Sein Abschiedsalbum „Blackstar“ erschien zwei Tage vor seinem Tod, kurz nach der Uraufführung seines einzigen Musicals „Lazarus“ am Off-Broadway im Jahr 2015, das auf dem Roman „The Man Who Fell to Earth“ von Walter Tevis basiert. Nach mehreren europäischen Stationen von London bis Aarhus landet das bisher eher mäßig erfolgreiche Jukebox-Stück nun am Potsdamer Hans Otto Theater.
Ein Herzmonitor flimmert über die kühle Bühne und ein lautes Piepen läutet Bowies Tod ein. An seine Stelle tritt sein außerirdisches Alter Ego Thomas Jerome Newton (Philipp Mauritz) mit dem innigen Wunsch, die Erde bald wieder zu verlassen und zu seinem Heimatplaneten zurückzukehren. Gestrandet und isoliert im New Yorker Apartment, versucht er seine belastenden Erinnerungen und Ängste hoffnungslos mit Gin zu überwinden. Die „gewöhnlich“-naive, vom Ehestreit zerrissene Haushälterin Elly (Nadine Nollau) verbindet ihn mit der Außenwelt und sorgt für sein Wohl, während sich ihre romantisierte Besessenheit von Newton sowie seine Illusionen in wahnhaften Episoden manifestieren.
Die Dialoge schwanken zwischen Plattitüden und Geheimnisvollem, in denen Realität und Imagination verschwimmen. Aus dem biografischen Nähkästchen halluziniert Newton neben seiner ehemaligen Geliebten Mary-Lou rätselhafte Gestalten: ein Mädchen (Mascha Schneider) als heilsbringende Hoffnungsgarantin, die ihm helfen soll, ein Raumschiff zu bauen, und den antagonistischen Valentine (Jan Hallmann), einen mordlüsternen Punk-Bösewicht. Newtons eskapistische Fantasie scheitert, er ist bis zu seinem Ende zwischen den Welten gefangen als irdischer Außerirdischer. Der Weltraum bleibt wie in Bowies ikonischem Song „Space Oddity“ eine Metapher für Isolation und Wahnvorstellungen, deren Tragik „Lazarus“ packend porträtiert.
Regisseur Bernd Mottl schafft eine meist schmissige Atmosphäre, eingeheizt durch 17 kraftvolle Hitsongs, welche die eher blassen, flachen Sprech-Intermezzi überschatten. So wirken etwa die ständigen Hoffnungserzählungen eines apathischen Newton repetitiv und schnell ermüdend. Das Bühnenbild (Friedrich Eggert) ist futuristisch und eher funktional, da die weiß gehaltene, klinische Atmosphäre als Projektionsfläche für Bowies fluide Persönlichkeit fungiert. Plattencover untermalen den nostalgischen Charakter der Produktion, während comichafte Videosequenzen Bowies Verspieltheit überzeugend akzentuieren. Im Hintergrund wartet eine leidenschaftliche Live-Band mit den Original-Orchestrationen auf – sie hätte allerdings einen prominenteren Platz in der Inszenierung verdient.
Trashig-knallige Retrokostüme (Friedrich Eggert) zwischen Raumanzügen und lasziven Sphinx-Looks greifen Bowies Wandlungsfähigkeit treffend auf und zieren das gesanglich herausragende Ensemble. Ein sanftes „Changes“ von Elly (Nadine Nollau), ein gefühlvolles „Life on Mars?“ (Mascha Schneider) oder ein euphemistisch-dunkles „Dirty Boys“ (Jan Hallmann) reflektieren die Zerbrechlichkeit des Künstlers und zeugen von beeindruckender Präsenz und Verve, die das Publikum mitreißen, gar zum Mitwippen animieren. Philipp Mauritz (Newton) sticht als heller Bariton mit frappierender Ähnlichkeit zu Bowies brüchigem Timbre eindrucksvoll hervor. Die stimmige, aber eher zurückhaltende Choreografie (Hakan T. Aslan) unterstützt nahtlos die Inszenierung und ergänzt harmonisch ihre melancholische Atmosphäre.
„Lazarus“ gelingt die überzeugende Darstellung einer nihilistischen Figur, die sich den Zwängen einer von Eitelkeiten zerfressenen Pop-Kultur radikal entzogen hat und seiner Entfremdung von der Gesellschaft mit exzentrischer Selbstinszenierung Ausdruck verleiht. Die Produktion weckt vor allem musikalisch eine tiefe, unstillbare Nostalgie, die das Publikum mit tosendem Applaus zelebriert.
Musikalische Leitung: Matthias Binner • Ausstattung: Friedrich Eggert • Choreografie: Hakan T. Aslan • Video: Jörn Hartmann • Mit: Philipp Mauritz (Newton), Mascha Schneider (Mädchen), Jan Hallmann (Valentine), Nadine Nollau (Elly), Tina Schorcht (Teenage Girl 1), Alina Wolff (Teenage Girl 2), Charlott Lehmann (Teenage Girl 3 / Maemi), René Schwittay (Zach), Paul Sies (Ben), Arne Lenk (Michael)
Aufmacherfoto: Thomas M. Jauk