Das kunstseidene Maedchen R6 605 | MUSICAL TODAY

Das kunstseidene Mädchen

Frühe Emanzipations-Parabel

qi addons for elementor placeholder | MUSICAL TODAY
oRT
Kleines Theater Bad Godesberg
von
Rainer Bielfeldt (Musik)
Carsten Golbeck (Bearbeitung und Liedtexte)
Regie
Bernard Niemeyer
UraufführunG
2014

„Das kunstseidene Mädchen“ auf der Suche nach Glanz

Schon im Erscheinungsjahr des Romans „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun im Jahre 1932 schrieb Kurt Tucholsky: „Ein durch und durch originelles Buch, das den Leser unwiderstehlich in seinen Wirbel von toller Laune, tiefem Gefühl und tragischer und komischer Verstrickung zieht.“ Der zeitgenössische Großstadt-Roman voll hintersinnigem Humor und beißender Gesellschaftskritik hat bis heute nichts von seiner Schärfe verloren – auch weil man ihn als frühe Emanzipations-Parabel lesen kann. So entdeckte die feministische Literaturkritik Anfang der 1970er Jahre die in Vergessenheit geratene Autorin wieder und Keun erlebte eine Renaissance. Vorher hatte sich schon das Kino des Stoffes angenommen: Der französische Regie-Altmeister Julien Duvivier verfilmte 1959 das Buch mit der Fellini-Gattin Giulietta Masina in der Hauptrolle. Es entstanden diverse Bühnen-Versionen, darunter 1973 eine Revue und 1988 die erste Bearbeitung als Solostück. 2014 feierte „Das kunstseidene Mädchen“ dann als Chanson-Musical seine Uraufführung.

Diese Fassung (Musik: Rainer Bielfeldt / Bearbeitung und Liedtexte: Carsten Golbeck) präsentiert nun das Kleine Theater Bad Godesberg – und landet damit einen Volltreffer. Mara Schönborns nostalgisch-poetisches Bühnenbild entführt uns in eine Welt, in der noch keine Hartschalen-Rollkoffer die Reisewelt prägten. Die Bühne ist mit altmodischen Leder- und Schrankkoffern gefüllt, auf denen Hauptdarstellerin Neele Pettig nun fast zwei Stunden unermüdlich sitzen, balancieren, stehen, herumtanzen oder sie zu einem Diwan umfunktionieren wird. „Ich heiße Doris, ich bin christlich und geboren – und ein Glanz“, stellt sie sich vor.

Aber „glänzen“ kann man Anfang der 1930er Jahre nicht in der rheinischen Provinz, da muss man schon in die pulsierende Metropole ziehen. Die Entscheidung fällt ihr umso leichter, da sie ihren Job als Stenotypistin verloren hat, weil sie die sexuellen Avancen ihres Chefs zurückgewiesen hat, und auch ihre erhoffte Schauspiel-Karriere in der Statisterie steckengeblieben ist. Also entwendet sie in der Theatergarderobe einen Pelzmantel und setzt sich nach Berlin ab. Dort schlägt sie sich durch Affären mit wohlhabenden Männern, bis sie an den Angestellten Ernst gerät, der gerade von seiner Frau verlassen wurde. Ernst nimmt sie bei sich auf, ohne die Situation auszunützen. Als sich ihre Freundschaft langsam in Liebe verwandelt, erkennt Doris, dass Ernst immer noch an seiner Ex hängt – und gibt ihn desillusioniert frei. Erneut mittel- und obdachlos, muss sie sich wieder auf die Suche nach dem „Glanz“ machen: „Vielleicht nehm ich mir das Leben? Oder doch nicht! Eigentlich bin ich viel zu müde für Selbstmord …“

Anders als der Roman hört das Musical mit einem Fragezeichen auf – und erweckt im Zuschauer das Gefühl, dass man allzu gerne diese Doris, die sowohl am Ruhm wie auch an der Liebe gescheitert ist, in den Arm nehmen und ihr den Weg zum Glück weisen möchte. Diese Empathie wird einerseits von der Authentizität verursacht, mit der Keun ihre Protagonistin zeichnet und Carsten Golbeck das in sein Libretto und feinsinnigen Chansontexte überträgt. Musikalisch schlagen dabei Rainer Bielfeldts Kompositionen den Bogen zwischen dem Kabarett der 1920er Jahre und heutigen Chansons, Theo Palm intoniert sie kongenial live am Klavier.

Auf der anderen Seite beherrscht Neele Pettig von der ersten Sekunde an den Raum, trifft sprachlich und gesanglich alle Nuancen von naiv über verträumt bis hin zu euphorisch. Und immer wieder lässt sie eine berührende Verletzlichkeit durchblicken. Ihr eindrückliches Spiel erinnert an einen Satz von François Truffaut über Isabelle Adjani: „Als ich sie auf der Bühne sah, bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass man sie jeden Tag filmen sollte, sogar sonntags.“

Regisseur Bernard Niemeyer führt das alles mit einem präzisen Gefühl für Timing und einer einfühlsamen Personenregie zusammen, sodass letztlich doch noch der ersehnte Glanz auf „Das kunstseidene Mädchen“ fällt.


Musikalische Leitung: Theo Palm • Regie: Bernard Niemayer • Ausstattung: Mara Schönborn • Mit: Neele Pettig (Doris)

Aufmacherfoto: Patric Prager – die Prager Botschaft

Spielorte

Archiv