Uraufführung „Daddy Unplugged“ in der Neuköllner Oper Berlin
Beziehungen zwischen Vätern und ihren Kindern sind oft heikle Angelegenheiten. Da herrschen viel Schweigen, Ahnungen, unklare Verhältnisse. Ein sperriges Thema, das Sarah Nemitz und Lutz Hübner hochsensibel für die Neuköllner Oper in Berlin dramaturgisch aufarbeiteten. „Daddy Unplugged – ein Familienalbum“ lautet der Titel und führt schnurstracks in die Seelen von Menschen unterschiedlichen Alters, deren Erzeuger im Krankenhaus liegen. Die Gedanken fahren Achterbahn: Schuldgefühle, Verzweiflung, Ablehnung, Zuneigung purzeln wild durcheinander. Es gibt reichlich Stoff zum Nachdenken, wenig zu lachen und keine Lösung.
Vier Zufallsbekanntschaften im aseptischen Wartesaal eines Krankenhauses, irgendwo, herausgerissen aus ihrem Alltag. Die Nachricht kam plötzlich. Ein heftiger Sturz, ein Schlaganfall, es geht ums Überleben und dringend ersehnte Nachrichten des Personals über den aktuellen Zustand. Werden die Väter überleben, erwarten sie etwas Konkretes? Fragen huschen durch den Raum, Antworten fehlen. Die Angehörigen kommen ins Gespräch, erzählen sich Bruchstücke. Erinnerungen, die zu Puzzeln werden. Blicke zurück, ins heimische Wohnzimmer, Weihnachten mit mickerigem Tannenbaum, ein Urlaub und immer wieder Sprachlosigkeit. Regisseurin Alexandra Liedtke baut aus diesen angespannten, emotional aufgeheizten Stimmungen im Bühnenbild von Philip Rubner ein knisterndes Kammerspiel ohne Handlungsfäden.
Was hilft gegen den nagenden Blues? Musik – sie lockert die aufgestaute Situation. Peer Neumann hat die Plattensammlung seines verstorbenen Vaters durchforstet und einige Titel in das Stück transportiert, neu arrangiert und lässt sie mit der Band nun wunderbar einfühlsam schwingen oder rocken, zum Beispiel den Fats Domino Hit „Blueberry Hill“. Das wächst alles exzellent zusammen, schafft eine dichte Atmosphäre, die das Innenleben ausleuchtet. Distanz, Annäherung, Aggression und Erschöpfung pendeln unkontrolliert durch den sterilen Saal. Singen befreit hier oder Tanzen. Choreograf Paul Blackman bewegt das kleine Ensemble abwechselnd wirbelnd oder in Zeitlupe, das reflektiert die Verfassung der Akteure perfekt.
Frederike Haas (Frieda), Katharina Beatrice Hierl (Marie), Owen Read (Hanno) sowie Chris Jäger (Portait eines Unsichtbaren) stehen pausenlos auf der Bühne, schmeißen sich mit großer Verve in ihre Rollen, die zwar keine detaillierten Charakterstudien entwerfen können, aber den Moment hautnah, sehr direkt und darum völlig authentisch vermitteln, egal ob stumm, singend, tanzend oder in knappen Monologen. Ihre Ohnmacht ist stets im siedenden Aggregatzustand spürbar. Ein paar Dias, Kleidungsstücke, wenige Hinweise auf jeweilige politische Hintergründe montieren sich zu Episoden, letztlich einem Familienalbum ohne Hochglanz, sondern nüchtern, ungeschönt.
„Daddy Unplugged“ wirkt trotz eher artifizieller Struktur realitätsbezogen. Die Protagonisten offenbaren Ängste und Hoffnungen, den Ekel vor ständiger Kleinmacherei durch ihre Väter und das häufige Fehlen von Worten fast wie ein Kindheitstrauma, das Wundmale schlägt, sich bis in ihr Erwachsenenalter fortsetzt. Ein ganz und gar untypisches Musical, traurig, manchmal ein Aufblitzen von Fröhlichkeit im Pastellton, nie moralhaltig, tief schürfend, anrührend und enorm intensiv. Das Uraufführungspublikum quittiert die schwere Kost mit frenetischem Beifall: Musiktheater vom Allerfeinsten.
Buch und Gesangstexte: Lutz Hübner, Sarah Nemitz · Musik: Peer Neumann · Arrangements und musikalische Leitung: Peer Neumann · Ausstattung: Philip Rubner · Choreografie: Paul Blackman · Darsteller: Frederike Haas (Frieda), Katharina Beatrice Hierl (Marie), Owen Read (Hanno), Chris Jäger (Portrait eines Unsichtbaren)
Aufmacherfoto: Philipp Plum