Uraufführung von „Ku’damm 59 – Das Musical“
Kein Prachtboulevard, nirgends. Stattdessen schlichte Zimmer, schmucklose Häuserzeilen, eine schmuddelige Bar: Kulissen für eine Hinterhof-Story oder einen Film Noir. Hier ist wenig Platz für Metropolen-Glanz samt Wirtschaftswunder-Flair – und dann noch ein melancholisch verhangenes Chanson Tristesse wie „Frühling in Berlin“. So wollen es Annette Hess (Buch) sowie Peter Plate und Ulf Leo Sommer im Gespann mit Joshua Lange (Musik/Gesangstexte) als Kreativ-Team. Und doch zeigen sie immer wieder die Kehrseite der bleichen Medaille mit pulsierend praller Vitalität. Ihr jüngstes Werk „Ku’damm 59“ folgt den Spuren der gleichnamigen TV-Serie, komprimiert die zweite Staffel der bittersüßen Geschichte der Familie Schöllack wieder auf einen Abend und wertet sie mit erstklassigen, eingängigen Songs auf. Die bejubelte Uraufführung im Berliner Theater des Westens verspricht eine lange Laufzeit.
Das Musical öffnet den Blick auf eine zerrissene Gesellschaft, zwischen Ost und West parzelliert, beschmutzt vom braunen Sumpf – ein Gewirr aus klebriger Moral, Aufbrüchen, übler Frauenfeindlichkeit und Emanzipationsbegehren, Prüderie, Klitterung: reichlich Inhalt für drei gehaltvolle Stunden. Fast permanent droht die Gefahr, in schwerlastige Beziehungskonstellationen abzurutschen.
Davon befreien sich die Autoren allerdings mit Verve und handwerklichem Geschick. Sie platzieren tragische Elemente neben Fröhlichkeit, durchstreifen eine kurze, spannungsgeladene Episode der Nachkriegsjahre mit dramaturgischer Finesse und Fingerspitzengefühl für richtiges Timing und garantieren allerbeste Unterhaltung ohne eine Prise Langeweile. Aus dieser Fundgrube schöpft Regisseur Christoph Drewitz genüsslich. Er zurrt die Fäden straff zusammen, gönnt Raum für Emotionen, stille Momente und Show-Glasur. Seine Inszenierung sorgt für scharfe Schnitte, ausgetüftelte Personenführung und flottes Tempo. Entsprechend geht nach einem etwas faden Auftakt rasch die Post ab.
Drewitz kann sich auf starke Unterstützung verlassen. Katrin Nottrodt mit einem sparsamen Bühnenbild und Licht-Designer Tim Delling loten wechselnde Stimmungen subtil aus und entfalten Atmosphäre, Esther Bialas hat dazu stilechte Kostüme kreiert. Die Choreografie von Jonathan Huor sitzt perfekt und überträgt die jeweiligen Situationen in ansehnliche Bewegungsabläufe mit sprudelnder Energie. Shay Cohen und seine auf den intendierten Sound punktgenau eingeschworene Band lenken jeden Song in ein berückendes Licht, egal ob Tango, Ballade oder Rock’n’Roll. Das Komponisten-Trio hat ein qualitativ und quantitativ staunenswertes Spektrum entwickelt, das Tuchfühlung mit Schlagern des damaligen Geschmacks aufnimmt, den marschlastigen Ton der NS-Jahre ironisiert und außerdem zeitlos wirkt, stets mit geschliffenen Liedtexten und oft historischen Bezügen. „Hotel am Wolfgangsee“, „Speer und Riefenstahl“, „Marie läuft Amok“, „Zwischen Ost und West“ oder „Geh ran“ erweisen sich als Show-Stopper.
Im Mittelpunkt steht die resolute Tanzlehrerin Caterina Schöllack (famos: Katja Uhlig) mit ihren Töchtern Eva (Isabel Waltsgott), Helga (Pamina Lenn) und Monika (überragend: Celina dos Santos) – eine Premiumbesetzung. Eva ist mit Professor Fassbender (Cusch Jung) verheiratet, der seine Frau mit chauvinistischen Sprüchen traktiert; Helga mit Staatsanwalt Wolfgang von Boost (Philipp Nowicki), den es mehr zu Hans (Alexander Auler) aus Ost-Berlin zieht. Monika lebt mit dem ehemaligen KZ-Insassen Freddy (Mathias Reiser) zusammen, liebt jedoch Joachim (Tobias Joch) und möchte Karriere beim Film machen. Dafür ist die schmierige Christa Moser (köstlich: Steffi Irmen) zuständig. Sie resüssierte als Regisseurin von Nazi-Propagandafilmen, die sie postwendend als große Kunst deklariert – jetzt verdient Moser ihr Geld mit cineastischen Schenkelklopf-Postillen. Eine handverlesene Cast, die sich absolut sehen und hören lassen kann und mit Begeisterung bei der Sache ist, was dem Musical mächtig auf die Sprünge hilft.
„Ku’damm 59“ balanciert zwischen berührenden Augenblicken, üppigem Kolorit, hitzig aufgedrehten Tableaux und tieftraurigen Szenen. Die Macher spazieren dabei bewusst haarscharf an billigen Klischees und rustikaler Komödie vorbei. Wenn Christa Moser plötzlich ihre lesbische Neigung offenbart, erscheint das aufgesetzt, das meiste aber funktioniert wunderbar, bis hin zum finalen Still-Leben in Caterinas Schlafgemach. Berlin hat nach dem ersten Teil „Ku’damm 56“ (2021) wieder einen Musical-Hit, der richtig Furore machen dürfte.
Musikalische Leitung: Shay Cohen • Choreografie: Jonathan Huor • Bühne: Katrin Nottrodt • Kostüme: Esther Bialas • Licht: Tim Delling • Sounddesign: Florentin Adolf • Mit: Celina dos Santos (Monika Schöllack), Katja Uhlig (Caterina Schöllack), Isabel Waltsgott (Eva Fassbender), Pamina Lenn (Helga von Boost), Steffi Irmen (Christa Moser), Mathias Reiser (Freddy Donath), Tobias Joch (Joachim Franck), Philipp Nowicki (Wolfgang von Boost), Cusch Jung (Prof. Dr. Jürgen Fassbender), Alexander Auler (Hans Liebknecht) u.a.
Aufmacherfoto: sunstroem