Audra McDonald dominiert „Gypsy“ als überlebensgroße Mama Rose
Im Pantheon der großen Broadway-Musicals gibt es viele denkwürdige Shows, aber nur zwei von ihnen werden immer wieder als die perfektesten Beispiele des Genres bezeichnet: „Guys and Dolls“ und „Gypsy“. Letzteres basiert auf dem Leben und der Karriere der Vaudeville-Stripperin Gypsy Rose Lee und sollte eigentlich von Arthur Laurents und Stephen Sondheim geschrieben werden, die bereits gemeinsam an der „West Side Story“ gearbeitet hatten. Sondheim war ursprünglich für die Songs, also Musik und Texte eingeplant, aber als Produzent David Merrick den Broadway-Star Ethel Merman für die Hauptrolle verpflichten wollte, da weigerte sich diese, mit einem seinerzeit unbekannten Komponisten zusammenzuarbeiten. Sie hatte bereits in der Spielzeit zuvor mit einem von zwei Newcomern geschriebenen Musical einen Flop erlebt – jetzt wollte sie nur unter der Bedingung zustimmen, dass Jule Styne, Komponist von „Gentlemen Prefer Blondes“, die Musik beisteuern würde.
Auch wenn der Titel vermuten lässt, dass Gypsy Rose Lee im Mittelpunkt des in den 1920er und 1930er Jahren spielenden Stücks steht, so ist es doch in Wirklichkeit die herrschsüchtige Bühnenmutter Mama Rose, deren ganzer Wille auf eine erfolgreiche Karriere ihrer Töchter Louise und June im armseligen Varieté-Betrieb ausgerichtet ist (Louise wurde Gypsy, June machte als June Havoc Karriere in Hollywood). „Sie ist eine überlebensgroße Mutter, eine mythische, hypnotisierende Mutter, ein Monster von Mutter mit dem süßen Namen Rose“, schrieb Laurents über sie. Das Musical hatte am 21. Mai 1959 am Broadway Premiere, wurde ein Riesenerfolg und erlebte 702 Aufführungen. Merman prägte die Rolle für alle Zeiten. Im Laufe der Jahre erlebte das Stück bereits vier Broadway-Revivals, wobei sich die Aufmerksamkeit eher auf die Darstellerin von Mama Rose konzentrierte als auf die Hauptfigur selbst.
Broadway-Superstar Audra McDonald passt perfekt zu dieser ikonischen Figur und spielt sie absolut überzeugend. In einer Darbietung, die weit über frühere Inkarnationen hinausgeht, verwandelt sie Mama Rose in eine Dämonin mit explosiver Persönlichkeit und dominiert damit den gesamten Abend. Ihre sensationelle Darbietung der letzten Nummer „Rose’s Turn“ ist ein Showstopper, der die wilden Ovationen vollkommen verdient.
Das bestens gelaunte Ensemble, das für die Produktion versammelt wurde, umgibt den Star auf ähnlich hohem Niveau: So wirkt Danny Burstein als Herbie (der Agent, der sich mit Rose anfreundet und dann zum Manager ihrer beiden Mädchen wird) sehr passend zurückgenommen, Joy Woods als Louise schüchtern und doch verführerisch. Superb spielen Lesli Margherita, Lili Thomas und Mylinda Hull die drei Varieté-Stripperinnen Tessie Tura, Mazeppa und Electra – sie bringen Louise bei, wie man eine der ihren wird. Jordan Tyson ist die überschwängliche June und in der besuchten Aufführung überrascht die begabte junge Schauspielerin Jade Smith als Baby June und zeigt ihre vielfältigen Talente.
In der zügigen Regie des renommierten George C. Wolfe und mit der raffinierten Choreografie von Camille A. Brown entwickelt das Musical einen ganz neuen Geist und eine intelligente Haltung. Das kommt ihm nicht nur enorm zugute, sondern erzeugt auch einen frischen Look, der heutigen Anforderungen besser zu entsprechen scheint.
Die technischen Details werten die visuellen Aspekte der Show auf, von Santo Loquastos subtilen Bühnenbildern über die Beleuchtung von Jules Fisher und Peggy Eisenhauer bis zu den glitzernden Kostümen von Toni-Leslie James. All diese Elemente verleihen der Inszenierung einen Glanz, der die Entwicklung der Handlung unterstützt und fördert. Selten wirkte das Revival eines gefeierten Musicals auf sämtlichen Ebenen derart mitreißend und überzeugend. Sondheim, der letzte Überlebende des Kreativteams zu der Zeit, als die Idee zu dieser Produktion entstand, hätte es geliebt.
(Übersetzung: Angela Reinhardt)Musical Supervision und Musikalische Leitung: Andy Einhorn • Choreografie: Camille A. Brown • Bühne: Santo Loquasto • Kostüme: Toni-Leslie James • Licht: Jules Fisher und Peggy Eisenhauer • Sounddesign: Scott Lehrer • Mit: Audra McDonald (Rose), Danny Burstein (Herbie), Joy Woods (Louise), Jordan Tyson (June), Kevin Csolak (Tulsa), Lesli Margherita (Tessie Tura), Lili Thomas (Mazeppa), Mylinda Hull (Electra/Miss Cratchitt), Jade Smith (Baby June) u.a.
Aufmacherfoto: Julieta Cervantes