
„My Fair Lady“ verzichtet auf Überschreibungen
Für seinen größten Erfolg „My Fair Lady“ hat Frederick Loewe einen Hit an den anderen gereiht. Weder das unverwüstliche „Es grünt so grün“ noch „Ich hätt’ getanzt heut’ Nacht“ kann man ohne die dazugehörige Melodie denken. Außerdem hat es heute einen pikanten Reiz, wie einem im Libretto von Alan Jay Lerner die Geschlechterklischees nur so um die Ohren fliegen. Wobei das, was sich da über die Arroganz der britischen Oberschicht im Umgang mit den aus ihrer Perspektive unteren Schichten findet, wahrscheinlich auch jetzt noch zumindest einen Teil der Wirklichkeit beschreibt.
Im Anhaltischen Theater Dessau hat dieser Zuschauermagnet zudem eine besondere Geschichte. Hier war zwischen 1966 und 1976 Eva-Maria Hagen die gefeierte Eliza Doolittle. Die Wolf-Biermann-Freundin und vom Publikum geliebte wie von den Oberen beargwöhnte und mit Auftrittsverboten drangsalierte „Brigitte Bardot des Ostens“ lockte Publikum aus der ganzen DDR nach Dessau – 163 (!) ausverkaufte Vorstellungen in zehn Jahren muss man erstmal hinkriegen!
Hausherr Johannes Weigand ist als Regisseur so erfahren und gewieft, sich bei dieser Aufführungsgeschichte nicht mit Überschreibungs- oder Neuerungs-Ambitionen zu profilieren. Wir finden uns also in einer von Moritz Nitsche hübsch anheimelnden Londoner Fassenden-Kulisse wieder: ganz so, wie sie das Klischee von der Zeit der Handlung 1912 behauptet. Hier gibt’s die erste Begegnung der beiden so phonetik-affinen wie wettfreudigen Upperclass-Briten Henry Higgins und Oberst Pickering. Als sie auf das Blumenmädchen Eliza Doolittle treffen, amüsieren sie sich über deren Ausdrucksweise. Higgins ist beim gekonnt singschauspielernden Roman Weltzien ein auf seine Mama fixierter, notorisch egoistischer Junggeselle par excellence. Sein Schauspielerkollege Stephan Korves sammelt als Oberst mit Manieren und gut dosiertem Komödianten-Charme Sympathiepunkte. Eliza ist in Dessau doppelt besetzt: Sängerin Bogna Bernagiewicz bestreitet die Premiere, Schauspielerin Maribel Dente macht alternierend eine gute Figur.
Bei Eliza hat die Lästerei der beiden Herren über ihren „Gossen-Jargon“ Ehrgeiz geweckt: Sie will bei Higgins Sprechunterricht nehmen und provoziert so die Wette zwischen den Herren, aus Eliza eine echte Lady zu machen. Daran wird fortan in einer Professoren-Bibliothek-Kulisse gearbeitet: Bücherwände, Grammophon, Sofa zum Füße hochlegen. Dazu Mrs. Pearce, die bei Claudia Lietz mit spitzer Zunge die klassische Haushälterin beisteuert.
Als es endlich bei Eliza nicht mehr grient, sondern grünt, wenn Spaniens Blüten blühen, riskiert Higgins den Praxistest mit einem Ausflug zum berühmten Pferderennen in Ascot. Da verliert Eliza noch die Contenance, beim Ball in der transsilvanischen Botschaft aber geht sie als Prinzessin durch. Ihr Auftritt ist ein voller Erfolg und Higgins hat seine Wette gewonnen. Das feiern die Herren als ihren Sieg – ohne die Hauptdarstellerin ihrer Vorstellung auf dem gesellschaftlichen Parkett auch nur zu erwähnen. Was die natürlich tief verletzt und revoltieren lässt. Sie geht auf die Werbung eines netten, aber bedeutungslosen Bewerbers ein, um am Ende dann doch (wer hätte das gedacht) bei Higgins zu landen.
Wolfgang Kluge heizt mit der Anhaltischen Philharmonie im Graben dieser Story mit dem Wohlfühl-Happy-End so ein, dass es eigentlich egal ist, wie wahrscheinlich das Ganze war oder ist. Auf der Bühne ist die Sache schlüssig. Weigand hat ein untrügliches Gefühl für Timing und seine umfangreiche Truppe (inklusive des von Sebastian Kennerknecht einstudierten Chors) bewältigt den ständigen Wechsel zwischen Sprachtempo und Gesang bravourös. Ein echter Clou sind die Kostüme. Was Judith Fischer hier den Damen in Ascot gönnt, verblüfft regelrecht mit seiner so völlig aus der Zeit gefallenen Eleganz.
Musikalische Leitung: Wolfgang Kluge • Regie: Johannes Weigand • Choreografie: Josef Eder • Bühne: Moritz Nitsche • Kostüme: Judith Fischer • Leitung Opernchor: Sebastian Kennerknecht • Mit: Leszek Wypchło (Ein Opernbesucher), Barış Yavuz (Freddy Eynsford-Hill), Bogna Bernagiewicz (Eliza Doolittle), Kristina Baran (Mrs. Eynsford-Hill), Stephan Korves (Oberst Pickering), Philipp Feige (Zeitungsverkäufer), Norbert Leppin (Schuhputzer), Christian Most (Werbeträger), Carsten Mende (Ein Mann aus Selsey), Roman Weltzien (Henry Higgins), Stephan Biener (Polizist), Chang Hyun Kim (Obsthändler), Alexander Nikolić (George, Kneipenwirt), Alexander Argirov (Jamie), Kostadin Argirov (Harry), Alexander G. Schäfer (Alfred P. Doolittle), Constanze Wilhelm (Eine ärgerliche Frau), Paweł Tomczak (Stimme eines ärgerlichen Mannes), Tomasz Czirnia (Stimme eines anderen ärgerlichen Mannes), Claudia Lietz (Mrs. Pearce), Ines Wilk-Ekim (Mrs. Hopkins), Philipp Feige (Butler bei Higgins), Alexander Argirov (König Georg V. von Großbritannien und Irland), Noriko Kishida (Erstes Stubenmädchen), Kyouko Tomita (Zweites Stubenmädchen), Christel Ortmann (Mrs. Higgins), Sabine Jeschke (Lady Boxington), Philipp Feige (Lord Boxington), Jeannette Spexárd (Ein Blumenmädchen), Jerzy Dudicz, Christian Most (Zwei Lakaien), Philipp Feige (Majordomo in der transsylvanischen Botschaft), Filippo Deledda (Sein Assistent), Paweł Tomczak (Sir Reginald Tarrington), Gerit Hammer (Lady Tarrington), Jiyeong Jung (Der Botschafter des Japanischen Kaisers), Kyouko Tomita (Seine Gattin), Kostadin Argirov (Prof. Zoltán Karpathy), Carsten Mende (Dr. Themistocles Stephanos), Ines Wilk-Ekim (Königin von Transsylvanien), Alexander Argirov (Prinzgemahl), Paweł Schanzer (Barmixer), Scarlett Rex (Zofe bei Mrs. Higgins) • Opernchor des Anhaltischen Theaters Dessau • Anhaltische Philharmonie Dessau
Aufmacherfoto: Claudia Heysel