„Sweeney Todd“ übertrifft sich selbst
Der Gazevorhang zeigt das London zu Beginn der Industrialisierung, als sich das Ensemble dahinter versammelt, um mit der „Ballade von Sweeney Todd“ den düsteren Abend zu beginnen. Der Theatersaal erbebt förmlich. Der für dieses Stück so wichtige Opernchor wird durch eine Reihe von Raum-Mikrofonen verstärkt, der prall gefüllte Orchestergraben (Leitung: Koji Ishizaka) lässt sein ganzes Können hören und die 21 Darstellerinnen und Darsteller sind bereits hier absolut präsent. Das Bühnenbild von Jens Kilian zeigt einen riesigen Ofen, der gleichzeitig auch die Bäckerei und den Friseursalon darstellt. Fast sind Ohren und Augen überfordert und doch ist das Ausrufezeichen, das Regisseur Gil Mehmert mit diesem Prolog setzt, so riesig, dass es bereits am Ende der ersten Szene laute Jubelrufe gibt. Der weitere Abend steht diesem Auftakt in nichts nach.
Nach dem Epilog dann, der alle Ermordeten wiederauferstehen lässt, darf sich als erstes der Opernchor verbeugen, samt Fabio Mancini, der für die Einstudierung verantwortlich ist. Was er und Mehmert aus diesem Chor an Spielfreude, Choreografien und natürlich Gesang herausholen, ist wahrlich beeindruckend. Bravo! Mit großer Präsenz, einer Reihe von Blitzumzügen und bewundernswerter Perfektion präsentieren sich der dritte und vierte Jahrgang der Folkwang Universität aus Essen. Die elf Talente erobern die Bühne, als gäbe es, um im Stück zu bleiben, kein Morgen mehr. Ob Fritz Steinbacher als Adolfo Pirelli, Nina Janke als Bettlerin, Florian Sigmund als Büttel, Andreas Laurenz Maier als böser Richter Turpin oder Julius Störmer als tumber Angestellter Tobias Ragg, der schließlich für das Ende der schrecklichen Ereignisse in der Pasteten-Bäckerei verantwortlich ist: Sie scheinen durch die Bank wie für die Rollen geschaffen und holen schauspielerisch wie gesanglich alles aus der durchkomponierten Partitur heraus.
Harriet Jones wird als Johanna Barker im Laufe des Abends immer präsenter und entwickelt sich vom blonden Mädchen zu einer der Schlüsselfiguren des Stücks. Sie singt zunächst noch mit lieblichem Sopran, wie man es etwa von Cosette in „Les Misérables“ gewöhnt ist, entwickelt sich aber mit jeder Szene weiter. Ist Jonas Hein anfangs noch hoffnungsvoll naiv und macht dem Rollennamen Anthony Hope alle Ehre, greift auch er dramatisch in die Handlung ein. Zunächst einfach nur ein Seemann, der sich nach einem Blick in Johanna verliebt, wird er es sein, der die junge Frau aus der Psychiatrie befreit. Hein zeigt einmal mehr, welchen Facettenreichtum er an den Tag legen kann.
Und was wäre dieses Stück ohne zwei fabelhafte Akteure in den Rollen von Mrs. Lovett und Sweeney Todd. Sie als dringend notwendiger Comic Relief, er als rachsüchtiger Mann, der seit über 15 Jahren darauf wartet, Richter Turpin zur Verantwortung zu ziehen. Bettina Mönch macht sich die Fleischpasteten-Bäckerin mit Leichtigkeit zu eigen – bei den unendlichen Textmengen und schwierigen Melodiefolgen, die in rasantem Tempo dargeboten werden müssen, gar nicht so einfach. Zudem wird mit jeder Szene deutlicher, wie ihr das ständige Morden die Schlinge um den Hals mehr und mehr zuzieht.
Morgan Moody spielt und singt sich ansonsten durch Mozart-Partituren oder Wagners Werke, er kommt in Operetten leicht daher und mag Musicals. Warum sollte es auch Grenzen geben! Und so erfährt man auf der Premierenparty, dass die Intendanz „Sweeney Todd“ eigentlich für Moody auf den Spielplan gesetzt hat: Es hätte wohl kaum eine bessere Entscheidung geben können. Eine derartige Präsenz, so viel Wut und Hass, der krasse Umgang mit seiner Vorlage vor allem im zweiten Akt … Man hält den Atem an, es ist im besten Sinne des Wortes wahnsinnig! Bei so viel Lob für diese Produktion wäre man fast geneigt, nach irgendetwas zu suchen, um die Euphorie des Abends zu bremsen oder glaubwürdiger zu machen. Aber Dortmund zeigt einfach Sondheim at his Best!
Musikalische Leitung: Koji Ishizaka • Bühne: Jens Kilian • Kostüme: Falk Bauer • Choreografische Mitarbeit: Yara Hassan • Licht: Michael Grundner, Stephanie Erb und Florian Franzen • Sounddesign: Joerg Grünsfelder • Chor: Fabio Mancini • Mit: Morgan Moody (Sweeney Todd), Bettina Mönch (Mrs. Lovett), Jonas Hein (Anthony Hope), Harriet Jones (Johanna Barker), Julius Störmer (Tobias Ragg), Andreas Laurenz Maier (Richter Turpin), Florian Sigmund (Büttel Bamford), Nina Janke (Bettlerin), Fritz Steinbacher (Adolfo Pirelli/Mr. Fogg) u.a. • Opernchor Theater Dortmund • Dortmunder Philharmoniker
Aufmacherfoto: Björn Hickmann