Der Drahtseilakt „Show Boat“
Generell wirkt die Atmosphäre im Zuschauerraum des Kraftwerks Mitte etwas kühl. Die optimale Temperierung fällt vor allem der Sensibilitätsbewährung durch das Dirigat und das Ensemble der Staatsoperette Dresden zu. Im Fall des bald 100 Jahre alten „Show Boat“, dem theatergeschichtlichen Meilenstein und Durchbruchswerk für das Handlungsmusical anstelle komödiantischer Revuen, erweist sich diese als schwierig. Hier gibt es einerseits brillante, von Harold Prince in seiner Broadway-Fassung von 1994 stark fokussierte Show-Szenen und berückende Songs, aber neben der Bejahung des Showbiz und glücklichen Familienepisoden auch jede Menge Paar-Desillusionierung. Die Autoren zeigten deutliche Skepsis an der Realität eines dauerhaften Glücks zu zweit für alle. Über allem steht die Kritik an der Rassenungleichheit in den Jahrzehnten nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg – und später.
Der schwarze Arbeiter Joe singt davon, dass das Leben ein langer ruhiger Fluss sei und dieser Fluss vom Leben weitaus mehr wisse als die Menschen. Als V. Savoy McIlwain den legendären Evergreen „Ol’ Man River“ anstimmt, muss er zu viel Druck geben. Unter dem neuen Chefdirigenten Michael Ellis Ingram sind Orchester und Bühne in den ersten 45 Minuten zwar höchst präzise zusammen, aber noch nicht im Emphase- und Swing-Modus. Das ändert sich, wenn es auf dem Show Boat „Cotton Blossom“ zunehmend menschelt, der etwas unsolide Gaylord Ravenal seine Frau Magnolia verlässt und in beider Tochter Kim die nächste Show-Generation heranwächst. Gero Wendorff modelliert den Filou Ravenal weich und porös, Charlotte Watzlawik ist dagegen als Sängerin und im Leben die Starke.
Pascale-Sabine Chevrotons Personenregie zeigt zunächst eine glatte Seite. Sie setzt mit den Solistinnen und Solisten sinnfällige Arrangements, gibt dem Ballett angenehmes, keineswegs sensationelles Material und fügt den Bürger*innenchor mit dem Hauskollektiv in ausbalancierenden Bewegungen ein. Nach der Pause gerät alles tiefer und dichter, weil das Ensemble da endlich auf den emotionalen Hochs und Tiefs der Handlung schwebt. Die Zeitlinie mit Fotodokumenten bis Kamala Harris wäre nicht nötig gewesen, könnten V. Savoy McIlwain als Joe und Catherine Daniel als seine Frau Queenie neben Resignation mehr inneren Zorn zeigen. Ein fürs Musical sehr filigranes Spiel bietet Aswintha Vermeulen: Die von ihr dargestellte Julie La Verne verliert als „versteckte Afroamerikanerin“ ihren Status als Weiße. Faszinierend, wie Vermeulen in einem Song die Stimme eindunkelt und Rhythmusgefühl herausbrechen lässt. Beide Stimmattribute sind Zuschreibungen, welche bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts Ausgrenzungsmerkmale und Erfolgsmittel schwarzer Künstler waren. Den Identitätswandel Julies gestaltet Vermeulen mit minimalen Details und deshalb außerordentlich subtil.
In der besuchten Vorstellung springt Benjamin Pauquet kurzfristig und sicher für den erkrankten Markus Liske in die textlastige Rolle des Kapitäns Andy Hawks. Bryan Rothfuss übernimmt für Pauquet die Rolle von Julies Partner Steve Baker. Ein minimales Handicap des Stücks sind einige tugendtümelnde Dialoge über „sollte man“, „müsste man“, „könnte man“. Ingeborg Schöpf als Show-Boat-Prinzipalin Parthy schrammt daran gut, weil knapp vorbei. Sybille Lambrich als Julies Tochter Kim wirkt wie die Zeitgenossin eines fortgeschrittenen Feminismus. Die Episodenpartien sind allesamt trefflich besetzt, die Ballettkompanie könnte etwas profilierter zum Einsatz kommen und der Bürger*innenchor ist äußerst engagiert. Monika Biegler findet für die Bühne, Projektionen und Kostüme am Mississippi, in der Trocadero-Hall und hinter den Kulissen das sinnfällige Kolorit. Am Ende großer zustimmender Applaus.
Musikalische Leitung: Michael Ellis Ingram • Regie und Choreografie: Pascale-Sabine Chevroton • Ausstattung: Monika Biegler • Chöre: Thomas Runge und Carola Rühle-Keil • Mit: Charlotte Watzlawik (Magnolia Hawks), Gero Wendorff (Gaylord Ravenal), Aswintha Vermeulen (Julie La Verne), Catherine Daniel (Queenie), V. Savoy McIlwain (Joe), Dimitra Kalaitzi (Ellie May Chipley), Andreas Sauerzapf (Frank Schultz), Benjamin Pauquet (Kapitän Andy Hawks), Ingeborg Schöpf (Parthy Ann Hawks), Bryan Rothfuss (Steve Baker), Sybille Lambrich (Kim), Dietrich Seydlitz (Pete), Elmar Andree (Sheriff Vallon), Jeannette Oswald (Mrs. O’Brien) u.a. • Ballett, Chor, Kinderchor, Bürger*innenchor und Orchester der Staatsoperette Dresden
Aufmacherfoto: Pawel Sosnowski